LONG COVID
Die Pandemie will und will nicht aufhören
Fast drei Jahre nach Ende der Corona-Massnahmen in der Schweizlaborieren einige immer noch an den Folgen der Infektionskrankheit, und andere erkranken neu an Long Covid. Einem Rätsel auf der Spur.
Kaum schwappte im März 2020 das neue Coronavirus namens Sars-Cov-2 um den Globus, tauchten bereits erste Berichte von lange anhaltenden Symptomen auf. Patientinnen und Patienten prägten den Namen Long Covid, der einen Komplex an Beschwerden meint, der über die akute Infektionsphase hinaus bestehen bleibt. In der Fachliteratur wird auch von post-akuten Folgeerscheinungen einer Coronavirusinfektion, von post-akutem Covid-19-Syndrom oder schlicht Post Covid gesprochen. Die WHO spricht von Long Covid, wenn drei Monate nach einer Infektion Symptome vorhanden sind, die insgesamt mindestens zwei Monate andauern und nicht durch eine andere Ursache erklärt werden können. Diese sehr vage Definition zeigt, wie schwierig Long Covid zurzeit zu fassen ist. Folgend erzählen zwei Betroffene, und wir nähern uns dem Phänomen in sechs Themen.
- Biologieprofessor, Institutsleiter (56), während 4 Monaten krank *
«Mit einem blauen Auge davongekommen»
«Ich bin Anfang 2024 zum dritten Mal an Covid erkrankt und habe mich nur langsam erholt. Nachdem ich meine Einkäufe hochgetragen habe, musste ich mich erstmal ins Bett legen. Mir sind auch dauernd blöde Fehler unterlaufen. Zum Beispiel habe ich eine vertrauliche E-Mail an die falschen Personen geschickt. Ich habe von zu Hause aus weitergearbeitet, aber viel weniger und zerstückelt, denn ich konnte mich nicht über längere Zeit konzentrieren. Mein Team hat super funktioniert, was sicher auch an meinem Führungsstil liegt. Auch die Akzeptanz im Umfeld der Universität war sehr gut.
Medikamente habe ich keine genommen. Ich habe mich noch gesünder ernährt und ganz langsam wieder mit meiner Gymnastik angefangen. Nach etwa vier Monaten war ich wieder auf dem normalen Level. Jetzt arbeite ich wie gewohnt, schreibe Publikationen und gehe an Konferenzen. Da ich selbst an Viren forsche, ist mir bewusst, dass ich noch mit einem blauen Auge davongekommen bin. Ich bin vorsichtiger geworden und trage zum Beispiel in ÖV und Flugzeug eine Maske.»
* Name der Redaktion bekannt.
Illustration: Christina Baeriswyl
- Sozialwissenschaftlerin, Professorin (56), seit 2,5 Jahren krank *
«Wie ein Lockdown ohne Ende»
«Die ersten Monate nach meiner Covid-Infektion waren ein Albtraum. Aus Unwissen heraus torkelte ich von Crash zu Crash. Ich konnte keine Zeile eines Textes mehr erfassen. Brainfog, starke Schmerzen, bleierne Erschöpfung, Schlafstörungen und vieles mehr begleiteten mich rund um die Uhr. In einer Reha wurde ich nicht gesünder. Seit der Erkrankung arbeite ich ein paar Stunden pro Tag im Homeoffice, mit langen Pausen dazwischen. Meine Kolleginnen tragen mich mit, und die Institutsleitung der Fachhochschule bringt mir grosses Wohlwollen entgegen. Aber ich werde meine Professur wohl demnächst abgeben müssen. Das schmerzt sehr.
Spontan Pizza essen gehen, mit einer Freundin abmachen, das gibt es alles nicht mehr. Es ist wie ein Lockdown ohne Ende. Mein Mann hilft mir sehr. Er gibt mir das Gefühl, dass unser Leben immer noch wertvoll ist. Dank meinem beruflichen Hintergrund nehmen mich die Ärzte ernst. Da haben andere mehr Mühe. Deswegen engagiere ich mich auch im Verein Long Covid für gesellschaftliche Anerkennung und ein besseres Versorgungssystem. Der Supergau ist, wenn jemand sagt: Gehen Sie doch einfach ein bisschen mehr an die Sonne.»
* Name der Redaktion bekannt.
Illustration: Christina Baeriswyl
Kaum Daten zum Umfang des Problems
Weder die Schweiz noch die meisten anderen Länder erheben systematisch Daten zu Long Covid – entsprechend schwer lässt sich die Erkrankung in Zahlen fassen. Eine umfassende Analyse ergab, dass weltweit etwa sechs Prozent aller Erwachsenen und ein Prozent aller Kinder an Spätfolgen von Covid litten oder immer noch leiden. Die Zahlen stammen aus statistischen Erhebungen in den USA und Grossbritannien sowie Metaanalysen grosser Kohortenstudien. Schätzungen für die Schweiz gehen von 80 000 bis 450 000 Betroffenen aus, je nach Erhebungsmethoden und Einschlusskriterien.
Noch unsicherer ist die Datenlage zum Krankheitsverlauf: Gemäss einer Schweizer Kohortenstudie mit 1100 nicht geimpften Menschen mit Long Covid fühlen sich etwa 17 Prozent auch zwei Jahre später noch nicht vollständig gesund – meist gab es aber eine Besserung.
Immunsystem ist dauernd auf 180
Von Erschöpfung bis Konzentrationsschwierigkeiten, von Herzrasen bis Geruchsverlust: Die Liste von bekannten Long-Covid-Symptomen ist lang. Die Suche nach der Ursache läuft mittlerweile seit vier Jahren. Im Januar 2024 konnte das Team von Onur Boyman an der Universität Zürich einen Erfolg vermelden: Sie fanden in Blutproben von Long-Covid-Patientinnen Veränderungen bei Proteinen des Immunsystems. Die Proteine gehören zur ersten Verteidigungslinie gegen Bakterien und Viren – zum sogenannten Komplementsystem. Dieses wird auch bei Gesunden im Fall einer Infektion aktiviert. «Bei Long-Covid-Patienten kommt das Komplementsystem aber nach einer akuten Infektion nicht mehr zur Ruhe», sagt Boyman. «Diejenigen, bei denen es zum Ruhezustand zurückkehrt, haben auch kein Long Covid.»
Es gebe zwar noch andere mögliche Ursachen wie ein gestörtes Darmmikrobiom, reaktivierte Herpesviren oder Autoimmunerkrankungen, doch für Boyman ist klar: «Das Komplementsystem kann bei all diesen Ursachen zentral mitwirken, was ganz viele Beschwerden erklärt.» Ziyad Al-Aly von der Washington University in St. Louis (Missouri) und Long-Covid-Forscher der ersten Stunde ist etwas vorsichtiger: «Es ist sicher ein wichtiger Mechanismus, aber ich zögere mit der Aussage, dass es wirklich der Hauptmechanismus ist.» Es wäre jedenfalls ein schönes Ziel für ein Medikament. «Die Frage ist, was löst die Überaktivierung des Komplementsystems aus?» Neben den offensichtlichen Schäden einer akuten Infektion, zum Beispiel eine Vernarbung des Lungengewebes, gibt es auch Hinweise darauf, dass Coronaviren oder zumindest Teile davon sich immer noch im Körper befinden und von dort das Immunsystem reizen.
Eine immer wiederkehrende Müdigkeit
Mittlerweile ist klar: Covid-19 kann ein Chronisches Fatigue-Syndrom auslösen – das heute zusammen mit der Myalgischen Enzephalomyelitis als ein Syndrom betrachtet wird: ME/CFS. Zentral dabei ist die Belastungsintoleranz, das heisst Betroffene gehen etwa nur kurz einkaufen oder machen einen kleinen Spaziergang, und am Abend oder am Tag darauf sind sie komplett erschöpft. Schwere Fälle sind komplett bettlägerig. Christian Dungl, Leitender Arzt an der Rehaklinik Hasliberg, sieht solche Fälle nicht erst seit der Covid-Pandemie. Als sich die Kinderlähmung ausbreitete, habe man von atypischer Poliomyelitis gesprochen, und heute gäbe es die Fibromyalgie oder die Krebs-assoziierte Fatigue. Vielfältige Auslöser, ähnliche Symptome: Belastungsintoleranz, allgemeine Müdigkeit, Konzentrationsprobleme (Brain Fog), vegetative Störungen wie Herzrasen und Verdauungsprobleme sowie Schmerzen und Reizüberempfindlichkeiten.
Dahinter stecke neben dem Immun- und dem Hormonsystem auch das zentrale Nervensystem, das Signale aus dem Körper verarbeitet und ihn steuert. Das «neuronale Abwehrsystem» sei überaktiviert. Dungl spricht vom Zentralen Sensitivitätssyndrom. Es treffe typischerweise stark und breit engagierte Leute, «deren Nervensystem sowieso schon mit 120 um die Kurve fährt, und dann kommt noch das Virus dazu.» Dungls Therapieansatz: Die Patienten müssten die körperlichen Signale ihrer Grenzen besser wahrnehmen lernen, um sie nicht dauernd zu überschreiten. Er beobachte bei vielen eine langsame, aber stetige Besserung – nicht innert Wochen, sondern innert Monaten.
Wenn alle Fachleute zur Sprechstunde kommen
«Das Krankheitsbild von Long Covid ist sehr heterogen», sagt Katrin Bopp, Gründerin und Leiterin der Long-Covid-Sprechstunde am Unispital Basel. Deshalb steht zu Beginn eine gründliche Anamnese, auch um andere Ursachen auszuschliessen und Vorerkrankungen zu erfassen. «Es gibt kein scharfes Diagnosekriterium, und das ist für alle Beteiligten oft frustrierend», so Bopp. Umso wichtiger sei es, Betroffenen zu vermitteln, dass ihre Symptome trotzdem nicht eingebildet sind. «Unser Behandlungsziel ist, die Funktionalität im Alltag zu verbessern, also den Fokus darauf zu richten, was noch geht.» Dafür kommen Fachleute aus Medizin, Physiotherapie, Ergotherapie und Psychologie zum Einsatz. Die Vergütung der Behandlung durch die Krankenkassen ist laut Bopp normalerweise kein Problem. Sie wünscht sich aber mehr Geld für die Schulung von Personal zur Behandlung von Fatigue-Erkrankungen. Der Bedarf ist hoch – die Wartezeit für ihre Sprechstunde beträgt zwei bis drei Monate.
Möglicherweise braucht es in den nächsten Jahren sogar noch mehr Ressourcen: Das Team der klinischen Neuropsychologin Julie Péron vom Universitätsspital Genf hat Menschen mit messbaren Aufmerksamkeitsdefiziten und sichtbaren Veränderungen im Gehirn gefunden, die sich überhaupt nicht krank fühlen: «Das sind Symptome, die wir auch bei neurodegenerativen Krankheiten beobachten.» Eine Verstärkung der Symptome und folglich eine Zunahme solcher Krankheiten in den nächsten Jahren müsse in Erwägung gezogen werden.
Ein diskriminierendes Virus
Männer haben schwerere Verläufe von Covid-19 und sterben öfter daran, was sich teilweise mit Unterschieden im Immunsystem erklären lässt. Das Team der Kardiologin Catherine Gebhard vom Universitätsspital Zürich hat den Einfluss des Geschlechts auf das Auftreten von Long Covid untersucht und bestätigt: Frauen erkranken häufiger daran. Den Grund dafür zu finden, ist schwierig. «Mit den Geschlechtshormonen hat es jedenfalls nichts zu tun. Das haben wir überprüft», so Gebhard. Deshalb schaute sie auch die sozialen Umstände der Betroffenen an. Und tatsächlich: Ein tiefer Bildungsstand, alleinerziehend zu sein und kleine Kinder zu haben erhöhten das Risiko zu erkranken unabhängig vom Geschlecht – nur befinden sich Frauen häufiger in diesen Situationen. Interessant ist: Allein zu leben war bei Frauen ein Risikofaktor, bei Männern hingegen ein Schutzfaktor.
Gebhard führt dies auf Stress zurück: Einsamkeit und der Eindruck, nicht den sozialen Erwartungen zu entsprechen, mache anfälliger. «Die Studie hat uns den Vorwurf von Frauen eingebracht, es sei typisch, bei Männern finde man biologische Faktoren, bei Frauen ‹nur› soziokulturelle», so Gebhard. Doch die Studie schliesse noch unbekannte biologische Faktoren nicht aus, sondern zeige einmal mehr, dass die Lebensumstände wichtig sind.
Therapie: Viele Ideen, kaum Daten
Noch ist kein Medikament speziell für Long Covid zugelassen. «Natürlich hätten wir am liebsten eine Therapie, die das Übel an der Wurzel packt», so der Neurowissenschaftler Dominique de Quervain von der Universität Basel. Aber eine solche sei nicht in Sicht. Deshalb wird hauptsächlich auf bereits bekannte Wirkstoffe oder Behandlungen zurückgegriffen. So führte ein Genfer Unternehmen eine klinische Studie mit einem für Multiple Sklerose (MS) entwickelten Antikörper durch − leider ohne den erhofften Effekt auf Fatigue. Die Universität Basel plante eine Studie mit dem für MS zugelassenen Wirkstoff Fampridin gegen kognitive Probleme. Es gelang jedoch nicht, dafür genügend Teilnehmende zu rekrutieren. Eine positive Wirkung gegen Fatigue und Konzentrationsstörungen lieferte eine chinesische Studie, bei der das Darm-Mikrobiom mit gutartigen Bakterien moduliert wurde. Inzwischen bekannt sind einige effektive präventive Massnahmen gegen Long Covid: So hat die Impfung einen Schutzeffekt − allerdings ist nicht klar, ob ein jährlicher Booster etwas bringt. Und das Antidiabetikum Metformin senkt das Risiko bei Übergewichtigen.
Der Verein Long Covid Schweiz listet eine Reihe von potenziell hilfreichen Behandlungen auf, die aber meist nur auf Erfahrungsberichten beruhen. «Es wäre sinnvoll, dazu kontrollierte Studien durchzuführen», sagt der Epidemiologe Milo Puhan von der Universität Zürich. «Damit Betroffene nicht viel Geld für etwas ausgeben, das gar nichts bringt.» Sein Team führt deshalb derzeit eine Studie mit dem Naturstoff Pycnogol gegen Entzündungen durch. Ebenfalls geplant war eine Studie zur sogenannten Blutwäsche – gemäss Erfahrungsberichten helfe das Herausfiltern bestimmter Stoffe aus dem Blut bei Long Covid. Sie scheiterte allerdings an der Finanzierung. Puhan will trotzdem nicht alles düster sehen: «Seriöse randomisierte Studien brauchen einfach Zeit. Und viele Reha-Massnahmen bringen Patientinnen und Patienten mit Long Covid etwas.»