Michael Prinz ist in seiner Freizeit Jäger und hat seinen Feldstecher immer dabei. Im Hintergrund steht die Biologin Pia Anderwald mit dem GPS-Gerätbereit. | Foto: Silas Zindel

Unscheinbar sieht sie aus, die dunkelbraune Kotwurst, wie sie da auf dem Wanderweg liegt. Fast könnte sie von einem Hund stammen. Doch Wandernde dürfen keine Hunde in den Schweizerischen Nationalpark mitnehmen, weil Pflanzen und Wildtiere hier möglichst ungestört gedeihen sollen. Zudem enthält die Hinterlassenschaft feine, helle Härchen. «Das sind Fellrückstände vom letzten Beutetier», sagt Michael Prinz, der im Sommer als Zivildienstler im Nationalpark bei den Forschungsarbeiten hilft. «Im Kot von Hunden finden sich solche Rückstände nicht, weil sie nicht jagen.» Der Fund ist noch frisch. Gestern oder vorgestern Nacht stand also genau hier ein Wolf.

In der Nacht gehörte der Park für ein paar Monate den Wölfen. Das war eine neue Entwicklung: Erst seit 2023 gab es dort ein Wolfsrudel. Für die Forschenden war das wie ein Sechser im Lotto, denn nun konnten sie untersuchen, wie der Wolf die anderen Tiere im Schweizerischen Nationalpark beeinflusst: seine Beutetiere wie Rothirsche und Gämsen, aber auch Kleinsäuger wie Mäuse und kleinere Räuber wie den Fuchs.

Zum Abschuss des Wolfsrudels

Die Reportage aus dem Schweizerischen Nationalpark entstand im Spätsommer 2024. Ende September hat das Bundesamt für Umwelt das Abschussgesuch des Kantons Graubünden für das im Text erwähnte Fuorn-Wolfsrudel gutgeheissen. Hintergrund waren zwei Rinderrisse. Bis Ende Oktober durften die Jungtiere des gleichen Jahres geschossen werden, danach auch die Eltern – jedoch nur ausserhalb des Nationalparks. Bis Anfang November wurde ein Tier geschossen. Wie viele der insgesamt 17 Wölfe im Nationalpark noch leben, war bei Redaktionsschluss nicht bekannt. Es ist laut Pia Anderwald, der Forscherin vor Ort, aber absehbar, dass sich früher oder später wieder ein Rudel in der Region bilden wird. Dann können die Forschenden längerfristig vielleicht doch die Veränderungen mit und ohne Wölfe untersuchen.

In Laborhandschuhen legt Prinz die Kotwurst in einen Plastikbeutel und packt sie in seinen Rucksack. Die Probe wird später unter dem Mikroskop und mit DNA-Analyse untersucht, um den Wolf zu identifizieren. Ausserdem werden die Untersuchungen zeigen, wovon er sich in den letzten Tagen ernährt hat. Der Nationalpark im Kanton Graubünden musste lange auf die Wölfe warten. Zwar streifte schon ab Ende 2016 eine Wölfin im Gebiet herum, sie blieb aber einsam. Erst 2022 wanderten ein neues Weibchen und ein Männchen ein und bekamen im folgenden Frühling Nachwuchs: gleich acht Welpen. «Zum ersten Mal gab es im Park Jungwölfe, das hat uns riesig gefreut», sagt Pia Anderwald, Biologin und Forscherin im Nationalpark. Heuer kamen nochmals sechs Jungtiere zur Welt.

Im urtümlichen Schweizerischen Nationalpark sind Pflanzen und Tiere streng geschützt. | Foto: Silas Zindel

Auch die Forschung ist Gebiet aktiv: Biologin Pia Anderwald und Zivildienstler Michael Prinz sind auf der Suche nach Kotspuren und warten Beobachtungsfallen. | Foto: Silas Zindel

Leckerbissen: Pia Anderwald befüllt Fallen für Kleinsäuger mit Meerschweinchenfutter. | Foto: Silas Zindel

Aus dem Kot der Tiere lässt sich ableiten, wie weit sie im Nationalpark verbreitet sind und wovon sie sich ernähren. | Foto: Silas Zindel

Dem Ast entlang ist ein Spurentunnel so ausgelegt, dass die Kleinsäuger ihn instinktiv benutzen. Ein willkommener Schutz vor Räubern. | Foto: Silas Zindel

Als Rudel beeinflussen die Wölfe ihr Revier deutlich mehr als ein einzelnes Tier. «Von anderen Ökosystemen wissen wir, dass grosse Beutegreifer die Wechselwirkungen zwischen den Tierarten nachhaltig verändern», sagt Anderwald.

Zum Beispiel im Yellowstone-Nationalpark in den USA: Dort haben die Wölfe die Artenvielfalt stark gefördert. So erhöhen Raubtiere etwa das Nahrungsangebot für Aasfresser. Und sie kontrollieren den Bestand von Wapitihirschen. Dadurch gibt es in den Ebenen und entlang der Flussläufe weniger Erosion, was die Vielfalt der Ökosysteme in der Landschaft des Parks fördert.

Der Fuchs darf nicht zu frech werden

Auf dem Wanderweg marschiert Prinz weiter, immer leicht bergauf. Es geht durch den Wald, dann durch eine steinige Senke. Wenn es hier regnet, wird diese zu einem reissenden Fluss, erzählt er. Mit seinen ausgreifenden Schritten und dem langen Wanderstab passt er wie hingemalt in die raue Landschaft. Dass er im Alltag als Banker arbeitet, möchte man ihm kaum glauben.

Auf einem grösseren Stein am Rand des Wanderwegs findet er eine weitere, deutlich kleinere Kotspur. «Die stammt von einem Fuchs. Füchse hinterlassen ihren Kot gern etwas erhöht, damit markieren sie ihr Revier.» Auch diese Probe packt Prinz für eine Laboranalyse ein. Zudem dokumentiert er den Fund auf Papier, inklusive der GPS-Koordinaten.

«Durch Wölfe dürften zusätzlich Beutereste für die heimischen Tiere übrigbleiben. So steigt ihr Nahrungsangebot.»Pia Anderwald

Seine heutige Wanderung ist ein Teil des Fuchsmonitorings: Dreimal pro Sommer marschieren die Forschenden alle Wanderwege des Parks ab, um die Kotspuren der kupferfarbenen Vierbeiner aufzunehmen. Dadurch sehen sie, in welchen Lebensräumen des 170 Quadratkilometer grossen Geländes sich die Füchse aufhalten. «In den letzten Jahren haben wir beobachtet, dass sie praktisch den ganzen Nationalpark genutzt haben, offene Flächen genauso wie Waldareale», sagt Anderwald. Umso interessanter ist die Interaktion zwischen Fuchs und Wolf.

Die Biologin sieht zwei mögliche Einflüsse. Einerseits kann ein Wolf einem Fuchs durchaus gefährlich werden. «Füchse gehören zwar typischerweise nicht zu den Beutetieren der Wölfe, aber wenn sie zu frech versuchen, Beute zu stibitzen, kann sich das rasch ändern.» Andererseits erwartet Anderwald, dass die heimischen Raubtiere vom Wolf profitieren. Denn aus den Kotanalysen der letzten Jahre wurde klar, dass die Nationalpark-Füchse sich nicht nur von Kleinsäugern, Insekten und Beeren, sondern auch vom Aas der Hirsche und Gämsen im Park ernährt haben. «Durch Wölfe dürften zusätzlich Beutereste für sie übrigbleiben. So steigt ihr Nahrungsangebot.»

Der Bankangestellte Michael Prinz absolviert seinen Zivildienst als Helfer im Nationalpark bei Zernez. | Foto: Silas Zindel

Tinte auf dem Filz: Wenn Kleinsäuger wie Mäuse darüberkrabbeln, hinterlassen sie auf dem Papierstreifen rechts ihre Pfötchenspuren. | Foto: Silas Zindel

Forscherin Pia Anderwald und Zivildienstler Michael Prinz sind auf dem Weg zu den Standorten, wo sie ihre Kleinsäugerfallen aufstellen. | Foto: Silas Zindel

Ein Rotfuchs ist in die Fotofalle getappt. Als Teil des Monitorings werden einige Tiere eine Zeit lang mit GPS-Sender-Halsbändern ausgestattet. | Foto: Silas Zindel

Zudem dürfte das Rudel auch indirekte Auswirkungen auf Kleinsäuger wie Mäuse haben, vermutet Anderwald. Während ihr Zivildienstler Prinz den Wanderweg weiter abläuft, steigt sie selbst eine Waldböschung hoch zu einer von fünf Fangflächen im Park. Das ist eine ordentliche Plackerei, denn der unberührte Wald enthält viel Totholz. Anderwald muss über herumliegende Äste steigen und sich unter halb umgestürzten Bäumen durchschlängeln. Sie schaut auf das GPS-Gerät. «Ja, hier sind wir richtig.»

Aus dem Rucksack nimmt sie eine der Fallen, eine tunnelartige Konstruktion aus Metall mit einem feinen Schliessmechanismus: eine winzige Schiene, auf welche die Mäuse tapsen müssen, wenn sie nach hinten in die Nestbox zum Futter krabbeln.

Mäuse trippeln über Tinte

Anderwald füllt etwas Stroh und eine Handvoll Meerschweinchenfutter in die Falle und platziert diese auf dem Waldboden, unter einem bemoosten Ast. Erst in fünf Tagen werden die Fallen für zwei Nächte aktiviert, denn die Mäuse sollen sich zunächst an sie gewöhnen. Damit wollen die Forschenden sicherstellen, dass ihnen eine möglichst repräsentative Stichprobe der hier lebenden Kleinsäuger in die Fallen tappt. Sind diese aktiv, werden sie alle acht bis zehn Stunden kontrolliert. Die Tierchen werden registriert und danach wieder freigelassen. So wird periodisch deren Anzahl bestimmt.

«Jetzt müssen wir nur noch 49 weitere Fallen aufstellen.»Pia Anderwald

An 16 weiteren Stellen, je 90 Meter entfernt von der Fangfläche, haben die Forschenden rundum Spurentunnel platziert. Die sind etwa einen Meter lang, eng, aus Holz. Maus und Co. krabbeln über einen Filz, der mit einer speziellen Tinte getränkt ist. Die Tiere hinterlassen auf Papierstreifen ihre Pfötchenspuren. So kann die Artenvielfalt der hier heimischen Tiere erhoben werden. «Wir können davon ausgehen, dass die meisten Kleinsäuger die Tunnel benutzen, da sie sich gern vor Räubern geschützt bewegen», so Anderwald. «Nur noch 49 weitere Fallen», sagt sie und macht sich auf zum nächsten Standort.

Für sie und ihr achtköpfiges Team ist der Sommer besonders anstrengend, die Tage sind lang und vollgepackt mit Feldarbeit. Diesen Sommer und Herbst hat die Biologin eine automatisierte Monitoringmethode getestet, bei der Kameras die Tiere automatisch erfassen. Doch noch ist nicht klar, ob diese Methode die Artenzusammensetzung genauso verlässlich zeigt wie die aufwendige Bestimmung mit Spurentunneln.

Mehr Wolf, weniger Hirsch, mehr Maus

Indessen lohnen sich die Strapazen, denn durch das Langzeitmonitoring wissen die Forschenden, welche und wie viele Kleinsäuger hier leben, und sie haben ein Gefühl für die jährlichen Schwankungen der Populationen bekommen. Gut vertreten sind im Park die Waldarten: etwa Rötelmaus, Alpenwaldmaus, Waldspitzmaus und Gartenschläfer. «Dagegen konnten wir typische Wiesenarten wie die Feldmaus noch nicht nachweisen», bedauert Anderwald.

«Wir müssten die Entwicklung über mehrere Jahre beobachten können, um die Auswirkungen verlässlich zu sehen.»Pia Anderwald

«Das hat vermutlich mit den Rothirschen zu tun, welche die Wiesen sehr kurz abäsen.» So kann kein geeigneter Lebensraum für Kleinsäuger entstehen, die Verstecke brauchen. «Mit einem Wolfsrudel dürfte sich das ändern», erwartet die Biologin. Sie vermutet, dass die Hirsche dann weniger regelmässig dieselben Weiden aufsuchen und diese dann auch nicht mehr so kurz sind.

Einen Hinweis dafür haben Parkmitarbeitende schon entdeckt. Gewisse Wiesenflächen standen in diesem Jahr höher als sonst. «Allerdings war das Jahr auch besonders gut für das gesamte Pflanzenwachstum», relativiert Anderwald. «Wir müssten die Entwicklung über mehrere Jahre beobachten können, um die Auswirkungen verlässlich zu sehen.» Gut möglich aber, dass die Wölfe indirekt dafür sorgen könnten, dass sich neue Arten ansiedeln.