Als Menge, als Platzhalter, als Bezugspunkt: Ständig werden in der Mathematik neue Konzepte der Null entwickelt. | Grafik: Bodara

Null kann mathematisch zunächst einmal bedeuten, dass eine Menge nicht mehr vorhanden ist, wie etwa die Anzahl der Äpfel, die uns bleibt, wenn wir alle weggegeben haben. Es dauerte eine Weile, bis dieses Konzept seinen Platz in der Wissenschaft fand: «Die Idee, die Abwesenheit einer Sache durch ein ähnliches Symbol darzustellen wie ihre Anwesenheit, ist nicht unbedingt naheliegend», erklärt Roy Wagner, Professor für Geschichte und Philosophie der Mathematik an der ETH Zürich. Im 7. Jahrhundert behandelte der indische Mathematiker Brahmagupta die Null als eigenständige Zahl, mit der man die üblichen arithmetischen Operationen durchführen kann. Aus «shunya» (alt­indischer Sanskritbegriff für «das Nichts») wurde im Persischen «sefr», insbesondere in den Werken des Gelehrten Al-Chwarizmi, und – wahrscheinlich – das altitalienische «zefiro», aus dem «zero» entstand.

«Die Idee, die Abwesenheit einer Sache durch ein ähnliches Symbol darzustellen wie ihre Anwesenheit, ist nicht unbedingt naheliegend.»Roy Wagner

Die andere wichtige Verwendung von Null in der Mathematik findet sich in der Stellenschreibweise einer Zahl, etwa für fehlende Zehner in der Zahl 1203. Die Null als Stelle hat eine gewisse Verwandtschaft mit der Null als Menge, aber nur eine begrenzte: Bei der schriftlichen Subtraktion mit Übertrag erhält sie vorübergehend den Wert zehn, was bei der Null als Menge nicht möglich ist.

Lange vor den römischen Zahlen und ihrer additiven Nummerierung (MCCIII) tauchten Stellenwertsysteme bereits vor 4000 Jahren in der babylonischen Mathematik mit einem Zahlensystem auf Basis 60 auf, ebenso später bei Archimedes. Zahlen wurden zunächst tabella­risch beispielsweise mit dem Abakus dargestellt, wodurch das Fehlen eines bestimmten Faktors durch eine einfache Leerstelle ausgedrückt werden konnte. Das Schreiben von Zahlen ohne Tabelle machte später die Einführung eines eigenen Symbols notwendig, das übrigens nicht immer mit dem Symbol für die Null als Menge identisch war.

«Das Konzept eines Hammers ist genauso approximativ wie das Konzept der Null.»Roy Wagner

Die Null hat noch weitere Verwendungszwecke. Sie findet sich auch in der Zählung wieder, wie bei der Uhrzeit, die um Mitternacht (00:00 Uhr) statt um eins beginnt. Die Architekten im alten Ägypten verwendeten die Null-Hieroglyphe, um geometrische Bezugspunkte bei Bauwerken anzugeben. Die Null taucht auch in der digitalen Welt auf, die Informationen mithilfe von 1 und 0 darstellt. Die Verwendung dieses Binärsystems in der Informatik geht auf die Boolesche Algebra zurück, die die formale Logik formalisierte. Indem sie Eins und Null mit wahren und falschen Aussagen verbindet, nutzt sie die Ähnlichkeit zwischen logischen Operatoren (und, oder) und Berechnungen, die mit den Zahlen 0 und 1 durchgeführt werden.

All diese Nullen stehen für unterschiedliche mathematische Konzepte. «Die Idee der Null zu verstehen bedeutet, zwischen diesen verschiedenen Kontexten navigieren zu können», betont Wagner. «Im Übrigen werden ständig neue Nullkonzepte entwickelt, einige haben Bestand und andere nicht.» Sind Null und Unendlich lediglich mathematische Objekte oder Teil der Welt? «Das Bezeichnende vom Bezeichneten zu trennen, scheint mir nicht hilfreich», antwortet der Philosoph. «Jedes Zeichen besitzt reale Materialität, und jeder Gegenstand hat eine symbolische Bedeutung. Schliesslich ist das Konzept eines Hammers genauso approximativ wie das Konzept der Null.»