Guillaume Andrey liebt Genetik, weil sie so logisch sei. Das Leben von Labormäusen will er möglichst sparen. | Foto: Anoush Abrar

«Es dient einem höheren Zweck.» Diesen Satz sagt Guillaume Andrey zu sich selbst, wenn er eine Maus euthanasieren muss. «Wie für die meisten Forschenden sind Tierversuche für mich alles andere als ein Vergnügen.» Er betont auch: «Höherer Zweck bedeutet nicht Freipass.» Vielmehr geht es laut dem Walliser darum, alles daran zu setzen, dass weniger Tiere für die Wissenschaft geopfert werden. Als der Genetiker an der Universität Genf seine eigene Forschungsgruppe gründete, setzte er diesen Anspruch sofort in die Tat um. Er entwickelte ein Protokoll, mit dem er bei seiner Arbeit 80 Prozent weniger Mäuse benötigt.

Andrey forscht an den genetischen Prozessen, welche die Entwicklung der Embryonen steuern. In Zusammenarbeit mit der Transgenic Core Facility der Universität Genf hat der 42-Jährige die Methode der sogenannten tetraploiden Aggregation angepasst und angewandt. Er kann damit aus Stammzellen, die im Labor genetisch verändert und in flüssigem Stickstoff aufbewahrt werden, direkt Mäuseembryonen mit einer bestimmten genetischen Ausstattung gewinnen.

«Wie für die meisten Forschenden sind Tierversuche für mich alles andere als ein Vergnügen.»

«Wir tauen die Zellen auf, wenn wir sie brauchen.» So müssen dafür nicht wie üblich mehrere Generationen von Mäusen gezüchtet und am Leben erhalten werden. Die Embryonen, in welche die aufgetauten Stammzellen eingefügt werden, kommen aus anderen Labors, wo sie bereits für Experimente verwendet wurden. Die veränderten Embryonen werden nun in eine weibliche Maus eingepflanzt. «Nur noch diese Tiere müssen am Ende geopfert werden.»

Die Bemühungen von Andrey und seinem Team wurden 2023 mit dem jährlichen Award des 3R-Kompetenzzentrums prämiert. Dieser wird an Forschung verliehen, welche die sogenannten 3R-Prinzipien voranbringt, also Tierversuche ersetzt, reduziert und verfeinert. 3R ist englisch und steht für replace, reduce, refine. Ziel ist es, entweder alternative Methoden zu Tierversuchen anzuwenden oder – wenn ein vollständiger Ersatz nicht möglich ist – die Anzahl der verwendeten Tiere und deren Belastung zu verringern.

Attraktiv, weil präzis und ohne Grauzonen

Beim Treffen im Herzen des Labyrinths aus Gängen am Centre Médical Universitaire in Genf bittet Andrey zunächst darum, seine Müdigkeit zu entschuldigen. Zwischen dem Abschluss mehrerer wissenschaftlicher Publikationen, seinem Antrag auf EU-Fördermittel und seinen beiden kleinen Kindern reihe sich «eine kurze Nacht an die andere». Trotzdem nimmt er sich die Zeit, das Labor und die insgesamt acht Mitglieder seiner Forschungsgruppe vorzustellen. Und auch dafür, die Fragen geduldig zu beantworten. Vielleicht hat er die pädagogische Ader seiner Eltern geerbt, die beide ausgebildete Lehrpersonen sind.

«Die Genetik schlägt eine Brücke zwischen dem unsichtbaren Genom und greifbarer Realität wie einer Gliedmasse.»

«Ich habe nicht die am einfachsten zu erklärende Disziplin gewählt», räumt er ein. Findet aber doch: «Die klare Logik der Genetik verleiht ihr auch eine gewisse Einfachheit.» Auch persönlich schätzt der Forscher «alles, was logisch und vorhersagbar ist». Er hält inne, denkt nach und kommentiert lachend: «Das klingt jetzt etwas nach einer starren Denkweise, aber ich meine damit: Wenn etwas nicht so läuft, wie es sollte, möchte ich nachvollziehen können, warum das so ist.»

Und die Genetik ermögliche «klare und präzise Antworten ohne Grauzonen ». Aber wirklich fasziniert habe ihn beim ersten Kontakt mit dieser Disziplin während seines Biologiestudiums, dass «die Genetik eine Brücke schlägt zwischen etwas völlig Unsichtbarem, dem Genom, und etwas sicht- und greifbar Realem, wie die Haut oder die Gliedmassen ». Dadurch gebe sie «der Welt um uns herum einen Sinn».

Gründe für den Klumpfuss

Einmal in die Fänge der Genetik geraten, blieb Andrey von ihr gefesselt. Dabei war er als Teenager nicht gerade ein Musterschüler: «Ich war eher der Typ, der mit dem geschenkten Chemieset Sachen in die Luft jagte und die beiden jüngeren Brüder zum Lachen brachte.» Später aber strengte er sich gleich doppelt an. 2006 erhielt er als junger Mann einen Platz im Nationalen Forschungsprogramm Frontiers in Genetics, das Doktorierenden die Möglichkeit bietet, einige Monate in verschiedenen Laboratorien der Schweiz zu verbringen. In Zürich beschäftigte er sich mit der Taufliege Drosophila, in Basel mit der Entwicklung der Netzhaut und in Lausanne mit der Erforschung bestimmter Viren.

Seine Dissertation an der EPFL widmete Andrey der Hervorbringung von Gliedmassen bei Mäusen. Er beleuchtete die Mechanismen der Entwicklung des Handgelenks, die in der Struktur des Genoms verankert sind. Diese Entdeckungen öffneten ihm die Türen zu mehreren internationalen Forschungsinstituten. Er wählte das Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin als nächsten Standort für sein Mikroskop. Dort untersuchte er als Postdoc die Entstehung des Skeletts.

«Der kleinste Fehler bei der Ausführung der Anweisungen des Genoms kann zu Missbildungen führen.»

Im Jahr 2018 kehrte der Genetiker in die Schweiz und an die Universität Genf zurück. Dort baute er ein Labor auf, mit dem Ziel zu verstehen, wie genau das Genom die Genaktivitäten im Embryo steuert. «Beim Aufbau einer bestimmten Struktur, zum Beispiel einer Gliedmasse, muss das Genom das richtige Gen am richtigen Ort und zur richtigen Zeit aktivieren. Der kleinste Fehler bei der Ausführung der Anweisungen des Genoms kann zu Missbildungen führen.»

In den ersten Forschungsjahren der Andrey-Gruppe gab es mehrere Entdeckungen, die Medienecho hervorriefen. Eine Studie etwa, die sich auf eines der an der Bildung der unteren Gliedmassen beteiligten Gene konzentrierte, zeigte, dass bereits eine geringe Störung im Aktivierungsprozess eines bestimmten Gens zu einem Klumpfuss führen kann, eine der häufigsten Beinfehlbildungen.

Von Genf nach Genf

Guillaume Andrey ist Professor am Departement für genetische Medizin und Entwicklung der Universität Genf. Er wurde 1982 in Sion geboren und studierte Biologie an der Universität Genf, bevor er im Rahmen seiner Doktorarbeit ins Labor des Genetikers Denis Duboule wechselte, der damals der EPFL angehörte. Nach einem Postdoc-Aufenthalt am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin kehrte der Forscher 2018 an die Universität Genf zurück. Guillaume Andrey lebt mit seiner Partnerin und den zwei gemeinsamen Kindern in Genf.

Im Juni 2024 schliesslich publizierte das Labor die Ergebnisse einer Studie zu denjenigen Regionen des Genoms, die die Genaktivität in den sogenannten Chondrozyten regulieren – das sind jene Zellen, die während der Embryonalentwicklung die langen Knochen des Körpers bilden. «Wir machten eine ganz einfache Beobachtung: Variationen in diesen Regionen wirken sich direkt auf den Aufbau unseres Skeletts und damit auf unsere Grösse aus.»

Ende 2024 sicherte sich Andrey einen weiteren Förderbeitrag, der seinem Labor die Fortführung der Arbeiten ermöglicht. Zum Beispiel wird seine Gruppe untersuchen, ob es bei Genaktivitäten, die zur Bildung von Gliedmassen führen, zu vorübergehenden Schwankungen kommen kann und ob sich diese auswirken, auch wenn sie nur von kurzer Dauer sind. Anstatt sich auf einen bestimmten Zeitpunkt der Embryonalentwicklung zu konzentrieren, werden die Forschenden den gesamten Prozess beobachten.

Anzahl Mäuse weiter reduzieren

Parallel dazu wird Andrey weiter nach Möglichkeiten suchen, die Anzahl der Mäuse, die für den reibungslosen Betrieb des Labors benötigt werden, zu reduzieren. «Ideal wäre es, wenn wir ganz auf Leihmütter verzichten könnten, aber so weit sind wir noch nicht.» Sollte dies gelingen, bliebe doch eine grundlegende ethische Frage: «Wenn ein Embryo ohne Leihmutter wächst, welchen Status hat er dann?»