Instagram-Post von Stefan von Bartha wurde am 6. Januar 2018 publiziert. | Quelle: Galerie von Bartha

«Zuerst musste eine Auslöschung stattfinden»

Hanna Hölling, Kunsthistorikerin, Hochschule der Künste Bern

«Dieses Graffiti-Tag ist heute nicht mehr zu sehen. Das Bild gehört zu den sehr seltenen Fotos von Arbeiten der Künstlerin Florence Jung. Die Geschichte dahinter: Am 6. Januar 2018 entdeckte ein Mitarbeiter der Basler Galerie Von Bartha den Schriftzug auf dem Fenster. Galerist Stefan von Bartha war gerade auf Reisen und sehr verärgert, als er darüber informiert wurde. Er teilte das Foto und seinen Unmut darüber auf Instagram, nach zwei Tagen liess er das Graffiti entfernen. Spulen wir zurück: Einige Monate zuvor hatte Jung eine Zusage zu einer Ausstellung in der Galerie gegeben, geknüpft an eine Bedingung: Der Galerist würde über das Werk nicht informiert werden, bis es realisiert ist.

Jung versicherte ihm aber, dass er es erkennen würde, wenn es einmal da sei. Sie beauftragte dann eine Graffiti-Künstlerin, die das Tag über Nacht sprayte. In einer E-Mail vom 8. Januar erklärte die Künstlerin dem Galeristen, dass die Ausstellung aus dem entfernten Graffiti und einer Medienmitteilung bestand. Da ist schon der erste Sinn von ‹etwas fehlt›: Zunächst hatte die Interpretation, der Kontext gefehlt. Es handelte sich also bereits um eine Art von Leere, von Nichtdasein. Und der zweite Sinn: Für die vollständige Realisierung des Werks ‹Jung 56› musste eine Art Auslöschung stattfinden.

«Das Graffiti ist das physische Überbleibsel, das für die Abwesenheit der Performance steht.»

‹Jung 56› ist wie alle Werke der Künstlerin hyperkonzeptionell. Hier spielt sie mit Zuständen der Unsichtbarkeit, Wahrnehmungen und situativen Kontexten, mit Material- und Medienverweigerung. Dazu gehört auch, dass sie die emotionalen Spannungen aushält, die es auslöst. Man kann ‹Jung 56› aus der Perspektive des sogenannten performativen Paradigmas betrachten: Der Akt der Ausführung über Nacht wäre in diesem Sinn die Performance, das Graffiti das physische Überbleibsel, das für die Abwesenheit der Performance steht. Das Entfernen des Tags zeigt dann doppelt das Verschwinden.

Es geht noch weiter: Jung arbeitet mit Bildverweigerung. Sie wünscht keine offiziellen Abbildungen. Auch nicht von ihrer Person. Heute werden performative Werke oft mit einem einzigartigen Event assoziiert. Wenn dieser nicht mehr da ist, versuchen Kunstinstitutionen an Ausstellungen, Biennalen und Festivals diese Leere mit Dokumentationen, Objekten, Fotografie, mit der ganzen materiellen Kultur zu füllen.

«Leere per se geht nicht.»

Jung macht das Gegenteil. Sie lässt uns Leere erfahren in einer Welt, die überflutet ist von Bildern, Medien, Selbstdarstellung. Sie hält diesem Horror vacui stand und sagt: ‹Ich möchte das nicht. Ich möchte eine tiefe Auseinandersetzung in der Stille.› Diese Haltung wiederum lenkt unsere Aufmerksamkeit auf andere Formen der kulturellen Übertragung wie die Erzählung oder die Weitergabe einer Erfahrung.

Es gab noch mindestens zwei andere Manifestationen dieses Werks: eines davon auf der griechischen Insel Anafi. Weil es dort ungewollt mit dem Tod eines Bewohners assoziiert wurde, musste es schnell übermalt werden. Spätere Besuchende haben aber berichtet, dass die Aussage ‹etwas fehlt› durch die Farbschichten hindurchschien. Das ist eine wunderschöne Metapher: Für die vielen Schichten von Jungs Werk und für die Tatsache, dass es sich im Prozess des Verschwindens befindet, aber nie richtig unsichtbar ist. Leere per se geht nicht. Es ist immer etwas dort.»

Die Prosaskizze «Wunsch, Indianer zu werden» erschien bereits in der ersten Publikation von Franz Kafka «Betrachtung» von 1913. | Quelle: Franz Kafka: Gesammelte Werke, 1994

«Es ist ein einziges grosses Verschwinden»

Andreas Härter, Literaturwissenschaftler, Universität St. Gallen

«Wo man vom Nichts redet, ist das Nichts grundsätzlich nicht. Reden ist nicht Nichts. Literatur kann aber versuchen, das Nichts zu thematisieren. Oder es erfahrbar zu machen. Dieser Text von Franz Kafka probiert das. Wir haben ein Bild: den Wunsch, Indianer zu werden. Das ist ein Wunsch danach, befreit zu werden. Dieses Ideal vom freien Native American, wie wir heute sagen würden, ist aber kulturell festgelegt. Der Wunsch nach Freiheit fesselt sich daran. Doch das Bild beginnt im Text zu verschwinden: die Sporen, die Zügel, der Pferdehals, der Pferdekopf.

Der Wunsch macht sich von seinem eigenen kulturell kodierten Bild frei. Und damit verstummt der Text. Aber wenn das Bild für den Freiheitswunsch verschwindet, was bleibt dann von diesem noch übrig? Der Wunsch verliert jede Konkretisierung, und das Subjekt des Wunsches bewegt sich in einen konturlosen Raum, in eine vollkommene Leere. Anders gesagt: Es verschwindet im Nichts. Als Leser bekomme ich eine Ahnung davon. Ich verschwinde zwar nicht selbst im Text, aber er führt mich relativ weit in eine Erfahrung von Nichts.

«Der Wunsch macht sich von seinem eigenen kulturell kodierten Bild frei. Und damit verstummt der Text.»

Im Grunde genommen ist der Text ein einziges grosses Verschwinden. Aber er lässt dies dann doch nicht richtig zu. Es gibt eine zweite Lesart: Historische Native Americans hatten keine Sporen zum Reiten. Das könnte nun einfach ein Fehler sein. Aber noch viel weniger passt die glatt gemähte Heide. Eine Prärie ist keine Heide. Diese unpassenden Elemente demontieren den Freiheitswunsch: Du bist halt doch kein Indianer! Gib den Freiheitswunsch auf! Und auch da bricht der Text ab. Man kann die beiden Lesarten nun zusammenbringen: Die unpassenden Elemente bremsen den Freiheitswunsch und verhindern damit, dass das Subjekt verschwindet, weil seine kulturelle Prägung noch da ist und es damit gleichzeitig auch nicht im Nichts aufgehen kann.

Wenn es aber noch da ist, ist es gefangen in der Welt, aus der es eigentlich gerne flüchten möchte. Bei Kafka sind das stets die gesellschaftlichen Zwänge, Institutionen, Normen. Also doch kein grosses Verschwinden. Der Text entscheidet sich meiner Meinung nach weder für das eine noch das andere, sondern hält genau die Spannung zwischen dem Wunsch und der Nicht-Erfüllbarkeit aufrecht.

«Die Mächte, denen sich Kafkas Subjekt ausgeliefert fühlt, haben immer Vernichtungspotenzial..»

Kafkas Figuren sind oft dabei, von bedrohlichen Mächten vernichtet zu werden. In der Novelle «Das Urteil» zum Beispiel wird der Sohn vom Vater zum Tod verurteilt. Im Roman «Der Prozess» wird die Figur verhaftet und am Schluss getötet. Im Text «In der Strafkolonie» wird die Hauptfigur in einer Maschine umgebracht. Und so weiter. Die Mächte, denen sich das Subjekt ausgeliefert fühlt, haben immer Vernichtungspotenzial. Da kommt also auch eine Form von Nichts.

Kafka hat übrigens ein Testament für seinen Freund Max Brod geschrieben. Darin steht, dass dieser sein Werk verbrennen soll. Das ist nichts anderes als die Selbstvernichtung als Autor. Auch ein Versuch, sich zu befreien. Auch ein Wunsch, der sich nicht erfüllt. Das Werk Kafkas verschwindet nicht im Nichts, sondern wird zum meist besprochenen Werk der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts.»