FILMTIPPS
Wie es den Forschenden auf der Leinwand ergeht
Machen Sie es sich gemütlich auf dem Sofa oder dem Kinosessel: Die Horizonte-Redaktion rezensiert zwölf aktuelle Serien und Filme, in denen sich alles um Labore, Erkenntnisse und die ganz grossen Fragen dreht.

Eine Nachricht, die von dieser abgelegenen, chinesischen Radarbasis ins Weltall geschleudert wird, läutet den Untergang ein. | Foto: Netflix
Menschheit in 400 Jahren ausgelöscht
«Ich verstehe nicht, warum die Wissenschaft kaputt ist.» – «Ich verstehe es auch nicht. Aber es ist nicht gut. Sei froh, dass du keine Wissenschaftlerin bist. Es ist eine Scheisszeit für sie.» So weit ein Dialog zwischen zwei Ermittlern in der ersten Folge der US-amerikanischen Serie «3 Body Problem». Die Teilchenbeschleuniger weltweit liefern nur noch Daten, die allen Gesetzen der Physik widersprechen. Mehrere Forschende begehen Suizid. Irgendetwas läuft so richtig falsch.
Ein abgehalfterter, aber schlauer Polizist sowie fünf junge Physik-Nerds, die einst zusammen in Oxford geforscht haben, versuchen herauszufinden, was los ist. Dies auch mithilfe eines Videospiels mit überirdisch guter Immersion. Irgendwann wird klar: Das Problem ist gigantisch. Ausserirdische werden in 400 Jahren die Erde überfallen, um das Ungeziefer Mensch auszulöschen. Forschende sind mitverantwortlich für die Rettung der Menschheit. Dabei hat eine von ihnen die fremden Mächte erst gerufen und damit den drohenden Untergang eingeleitet. Ein ambivalenter Einfluss der Wissenschaft auf das Schicksal des Planeten, fast wie in Realität.
David Benioff und D. B. Weiss, die beiden Showrunner von «Game of Thrones», haben «3 Body Problem» auf Basis des ersten Teils der Trilogie «Trisolaris» entwickelt. Auch hier beweisen sie Händchen für das Erzählen komplexer Zusammenhänge. Den Schauplatz des Romans des chinesischen Schriftstellers Liu Cixin haben sie zwar weitgehend nach England verlegt, sie zollen der Herkunft der epischen Geschichte aber Tribut, etwa indem einige der wichtigsten Charaktere aus China stammen. Die Hauptfiguren werden der Buchvorlage jedoch nicht gerecht. Zwar sind sie darin weniger fassbar, dafür aber weit weg von Klischeevorstellungen. Für die Serie wurden viele von ihnen zu jungen, sehr schönen Personen mit maximaler Diversität umgeschrieben. Ein wenig des Guten zu viel.

Forschende waren bei einem schiefgelaufenen Experiment tödlichen Strahlendosen ausgesetzt - und bringen die Behandlung der Auswirkungen entscheidend voran. | Foto: ZVG
Kettenreaktion von Atombombe zu Leukämie
Der vom Serben Dragan Bjelogrlić produzierte Spielfilm erzählt eine wahre und doch weitgehend unbekannte Episode des Kalten Krieges: 1958 landen vier jugoslawische Wissenschaftler in Paris, um sich dort behandeln zu lassen. Sie kommen direkt aus dem Kernforschungsinstitut in Vinča bei Belgrad, wo sie bei einem schiefgelaufenen Experiment tödlichen Strahlendosen ausgesetzt waren. Ihre Behandlung wird zu einem entscheidenden Schritt in der Entwicklung der Knochenmarktransplantation, mit der heute bestimmte Arten von Leukämie behandelt werden können. Dabei stellen sich ethische Fragen, da an Menschen experimentiert wird – mit potenziell tödlichen Folgen auch für die gesunden Spender. Verkompliziert wird die Geschichte durch die Verbindungen zur geheimen Suche nach der Atombombe.
Der Film kombiniert eine durchschaubare politische Intrige mit einem medizinischen Thriller und tut dies mit anregender Ambivalenz: Im Mikrokosmos der Kranken und Helfenden pendeln die Beziehungen zwischen menschlicher Zärtlichkeit und wissenschaftlicher Kälte. Das Drehbuch betont die Parallelen zwischen den Hauptprotagonisten, dem Arzt Georges Mathé und dem verstrahlten Atomphysiker Dragoslav Popović, denen eine an Verbissenheit grenzende Ausdauer für ihre Forschung gemeinsam ist und die dabei ihre moralischen Werte über den Haufen werfen. In der Mischung aus Drama, Thriller und Historienfilm wechseln sich schwache Momente mit starken ab, und es bleibt ein Gefühl von Unvollständigkeit zurück. Die eigentliche Qualität des Films ist, dass er ein bemerkenswertes historisches Ereignis beleuchtet.

Der dänische Dokumentarfilm über einen Evolutionsgenetiker setzt auf bildstarkes Storytelling. | Foto: ZVG
Auf Jagd nach antiker DNA in Sibirien
Fünf Jahre lang hat die Filmcrew um Regisseur Simon Lec den dänischen Evolutionsgenetiker Eske Willerslev auf seiner Mission begleitet, die DNA von 5000 Menschen aus der Antike zu entschlüsseln. Das Resultat: «Human Race». Der Film feiert in diesen Tagen Premiere, weshalb der Horizonte-Redaktion auch nur der Trailer und exklusiv einige Filmausschnitte im dänischen Original zugänglich waren. «Es brauchte diese fünf Jahre», sagt der Protagonist im Film, «weil ich mich komplett verletzlich zeige.» Es sei einfach, die Erfolge zu zeigen, schwierig jedoch, die Niederlagen auf dem Weg dorthin.
Die dänische Produktionsfirma Move Copenhagen hat schon in der Vergangenheit auf bildstarkes Storytelling gesetzt, um Wissenschaftsthemen einem breiteren Publikum nahezubringen. Der Trailer und die Filmausschnitte legen nahe, dass dies auch mit «Human Race» wieder gelingen wird – was wohl auch an der Hauptfigur liegt: So lebte Willerslev ein Jahr mit Pelzjägern in Sibirien, fand eines Nachts nicht rechtzeitig ins Lager zurück und wäre fast der Kälte und den Wölfen zum Opfer gefallen. Filmreife Geschichten, die das Leben schreibt.

Die Tornados werden auch wegen des Klimawandels stärker, was im Film nie direkt angesprochen wird. | Foto: ZVG
Zwei einsame Genies finden sich im Sturm
Die Geschichte ist schnell erzählt: Die draufgängerische Doktorandin Kate möchte mit ihrer innovativen Methode Tornados bändigen. Das geht zwar schief, doch sie wagt es dank ihres Freundes Javi nochmals und trifft auf den Bösewicht Tyler. Aber der Schein trügt: Der Böse wird zum Lieben, und der Freund hat etwas zu verheimlichen. Am Schluss bedroht der ganz grosse Sturm eine Kleinstadt in Oklahoma, Leute und Material fliegen durch die Luft.
«Twisters» hat alles, was es für einen guten US-amerikanischen Action-Blockbuster braucht: lauter schöne Leute, Tote und eine Romanze für die furchtlose Heldin. Auch auf wissenschaftlicher Seite gibt es Gut und Böse. Die immer häufiger und immer stärker werdenden Stürme machen den Klimawandel zum Thema des Films, ohne ihn je direkt anzusprechen. Das ist von Regisseur Lee Isaac Chung angesichts der politischen Gräben in den USA clever gemacht, da alle etwas davon haben und ihren Teil in die Kinokasse werfen werden.
Das im Film vermittelte Wissenschaftsbild ist hingegen ziemlich fragwürdig: Meteorologin Kate und der Cowboy-Youtube-Star Tyler sind beide Einzelkämpfende und Genies. Sie experimentieren in der Scheune des Bauernhofs, haben allein die genialsten Einfälle und die coolsten Materialien, ganz ohne Team. Kate verfügt zudem über eine unglaublich schnelle Auffassung: Ein kurzer Blick auf den Bildschirm im nationalen meteorologischen Institut oder auf Tornadojagd aus dem Pick-up in den Himmel, und schon weiss sie wie ein Wetterschmöcker, wo es gleich abgehen wird.
Der arme Javi hingegen arbeitet für das grosse, unpersönliche Team in der bösen Firma, die die Tornadoopfer abzocken will. Weder kann er mit seiner silbrig glänzenden High-Tech-Ausrüstung Kates Genie toppen noch kann er die zuschauenden Gemüter für sich gewinnen. Das passt zum Zeitgeist, wo sich so viele bei Influencenden auf Youtube oder Tiktok ganz allein ihre eigene Wahrheit zusammenbasteln – aber es sorgt für gute Unterhaltung.

Mächtig angerührt, aber schemenhafte Ausführung im Schweizer Thriller über die fantastische Welt der Physiker. | Foto: ZVG
Verwirrte Physik in verschneiten Bergen
Physikdoktorand Johannes Leinert kämpft mit seiner Dissertation. Laut seinem Doktorvater ist er ein Versager, ein anderer Professor prognostiziert ihm dagegen den Nobelpreis. Die deutsch-österreichisch-schweizerische Co-Produktion «Die Theorie von Allem» stellt die missgünstige Klüngelei zwischen den Professoren und die Verlorenheit des Doktoranden ganz lustig dar.
Sonst ist der Film leider das, was der Hauptprotagonist auch ist: beständig verwirrt. Dabei hat Regisseur Timm Kröger mächtig angerührt: Schwarz-Weiss-Stil alter Meisterwerke, rätselhafte Theorie der Multiversen, überwältigendes Schweizer Alpenpanorama und sogar noch die grosse Liebe. Das alles dient aber nur als Folie für … für was eigentlich?

Ausflug zu den Müttern der Urzeit, mit Reiseleitung aus der Verhaltensforschung. | Foto: Radio Bremen und A.Krug-Metzinger Filmproduktion
Von den Urahninnen lernen
«Liegt in der kooperativen Jungenaufzucht der Schlüssel zum Verständnis der Menschwerdung?» Diese Frage steht im Zentrum der Dokumentation «Das Geheimnis der Urzeitmütter» von Anja Krug-Metzinger. Sie nimmt das Publikum auf eine Reise, die unter anderem zu Dorfgemeinschaften auf einer abgelegenen griechischen Insel und einer historisch isolierten Region in Norddeutschland führt. Dabei spannt die deutsche Filmemacherin und Journalistin den Bogen von der Altsteinzeit bis ins 20. Jahrhundert und stellt das menschliche Verhalten ins Verhältnis zur kooperativen Jungenaufzucht von Weissbüscheläffchen. So lernen die Zuschauenden, warum die menschliche Spezies im Gegensatz zu anderen Säugetieren nicht bis zum hohen Alter gebären kann und was prähistorische Gräber über das menschliche Aufzuchtverhalten unserer Vorfahrinnen verraten.
Als Reiseleitende dienen internationale Fachleute aus Verhaltensforschung, Evolutionsbiologie, anthropologischer Forensik. Es wird deutlich: Die Kombination aus Kooperation und Kognition hat die Menschen im Laufe der Evolution zu Höchstleistungen gebracht – wie etwa der Mondlandung. «Die grosse Frage bleibt jedoch: Werden diese Errungenschaften ausreichen, um die beispiellosen Herausforderungen der nahen Zukunft zu meistern?» Die filmische Expedition in die Menschheitsgeschichte vermittelt ein eindrückliches und fundiertes Bild der sozialen Evolution und rückt dabei die Rolle der Mütter ins Zentrum, ohne den bildungsbürgerlichen Zeigefinger zu erheben.

Vom Professor im Stich gelassen, will eine junge Mathematikforscherin zuerst alles aufgeben. | Foto: ZVG
Das intime Gesicht der Mathematik
Marguerite, eine brillante Doktorandin der Mathematik, verteidigt ihre Dissertation an der renommierten Ecole Normale Supérieure in Paris. Eine Frage aus dem Publikum stellt ihre Ergebnisse plötzlich infrage. Von ihrem Professor im Stich gelassen, beschliesst die junge Forscherin, alles aufzugeben. Indem der französisch-schweizerische Spielfilm von Anna Novion die Mathematikerin mit einem Schlag aus der akademischen Welt herausholt, tauchen wir paradoxerweise in ihr Herz ein. Die Geschichte behandelt eine breite Palette von Situationen mit Bezug zu einem sehr anspruchsvollen Thema – der Goldbachschen Vermutung, einer Theorie über Primzahlen.
Der von Marguerite verkörperte Archetyp der sozial unkonventionellen, leidenschaftlichen, aber zweifelnden Forscherin trifft vielleicht auf niemanden vollständig zu, aber die Rolle dürfte bei Doktorierenden jeder Richtung auf Resonanz treffen, bei denen die Grenze zwischen Forschung und Leidenschaft zu verschwimmen droht. Der Schweizer Schauspielerin Ella Rumpf wurde 2024 dafür denn auch der Filmpreis César für die beste Hauptdarstellerin verliehen. Die Fabel stellt letztlich die Frage, wie Ablehnung und Versagensängste in einer Matrix von Eifersucht, Beziehungen und Ehrgeiz überwunden werden können. Dieses berührende und durchdachte Theorem gibt überzeugende Einblicke in tief verankerte, spezifische und universelle Dimensionen der Forschungswelt.

Mit maximal ausdrucksloser Miene konfrontiert die Kunstfigur Philomena Cunk Forschende mit unterbelichteten Ideen. | Foto: Netflix
Und es gibt doch dumme Fragen
Auf Augenhöhe will die Wissenschaft mit dem Volk sein. Das gelingt ihr allerdings selten. Dabei könnte sie sogar noch weit darunter gehen. Das demonstriert Komikerin Diane Morgan alias Philomena Cunk in der britischen Serie «Cunk on Earth» meisterhaft. Sie stellt – mit maximal ausdrucksloser Miene – Archäologinnen, Philosophen und Kulturwissenschaftlerinnen völlig unterbelichtete bis aussergewöhnlich absurde Fragen über die geschichtlichen Grossereignisse dieser Welt. Etwa: Bedeutet Sputnik in Russisch Sperma? Ist die Musik von Beyoncé oder die Erfindung des Buchdrucks bedeutsamer? Hat sich René Descartes auch gefragt: Wenn ich ganz stark denke, dass ich Eddie Murphy bin, bin ich dann Eddie Murphy? Und falls dem so ist: Was passiert dann mit ihm? Wird er ich oder verschwindet er einfach?
Die Forschenden halten bei dieser Mockumentary erstaunlich gut mit, manche liefern richtig ab: Religionsphilosoph Douglas Hedley etwa schafft es, die Fragen von Cunk irgendwie so zu drehen, dass sie plötzlich ganz klug daherkommen. Das ist grosses Kino. Militärhistoriker Ashley Jackson verliert selbst dann nicht die Fassung, als ihm Cunk Mansplaining vorwirft, weil er ihr erklären möchte, dass es nicht Sowjetonion (Sowjetzwiebel) heisst, sondern Sowjetunion. Kulturwissenschaftlerin Ruth Adams bewahrt tapfer Haltung, als sie darüber reden soll, warum man Elvis’ Penis nicht in den Medien hätte zeigen können – und bricht schliesslich doch lachend zusammen. Cunk bleibt empört todernst.
Charlie Brooker, Autor, Regisseur und Produzent der Mockumentary-Serie, entblösst darin genussvoll eine grosse Schwäche der Wissenschaft: Sie nimmt sich selbst zu ernst. Die Forschenden jedoch, die hier mitmachen, können Selbstironie. Das ist erfrischend.

Mit gezeichneten Bildern über realen Aufnahmen feilt «Sky Dome 2123» an seinem eigenen Genre. | Foto: ZVG
Dystopische Sinnsuche unter der Kuppel
Die Erde ist unfruchtbar, alles Tierleben ausgelöscht, und trotz allem hat eine Stadt unter einer schützenden Kuppel überlebt. Budapest wurde von einem Wissenschaftler gerettet, der herausfand, wie man Menschen selbst in Energie- und Nahrungsquellen umwandeln kann: Mit 50 Jahren wird jede und jeder in einen Baum verwandelt. Der Schauplatz ist eingegrenzt zwischen Leben unter Verschluss und einem angekündigten Tod. Die perfekte Dystopie.
Blockbuster dieses Genres bieten normalerweise unter viel Aufwand mit Spezialeffekten schliesslich doch unverhoffte Rettung oder eine neue Chance für die Menschheit an. Doch der Animationsfilm von Tibor Bánóczki und Sarolta Szabó durchbricht die Muster von Science-Fiction. Die Suche nach dem Wissenschaftler, der auch den Samen erfunden hat, aus dem die Kuppel wuchs, ist zwar die treibende Kraft der Handlung, im Mittelpunkt der Erzählung stehen jedoch nicht technische Fragen, sondern Gefühle, Entscheidungen und persönliche Geschichten. Die vielen Schattenseiten, insbesondere die früheren Verletzungen der Figuren, die eher angedeutet als erzählt werden, vermitteln den Eindruck eines komplexen Universums, das über den Film hinausgeht.
Mit gezeichneten Bildern über realen Aufnahmen feilt «Sky Dome 2123» an seinem eigenen Genre, das sowohl realistisch als auch ätherisch und zweifellos einzigartig ist. Muss die Wissenschaft die Menschheit um jeden Preis retten? Obwohl die zentrale Frage des Films nicht gerade durch Originalität glänzt, sorgt er für eine überraschend destabilisierende Immersion. Am Ende ist das Publikum beim Urteil über die Protagonisten auf sich selbst gestellt. Eine spannende Möglichkeit, sich mit den ethischen und emotionalen Dilemmata zu konfrontieren, die die Wissenschaft manchmal mit sich bringt.

In der Planet Earth-Reihe lernen wir nebenbei, fast ohne es zu bemerken. | Foto: BBC One
Schönste Natur, so schrecklich zerstört
Die BBC Studios Natural History Unit liefert zuverlässig die beeindruckendsten Tierfilme der Welt. Wie immer eine Wucht ist auch «Planet Earth III» mit der stets begeisternden Erzählstimme der britischen Ikone David Attenborough. Während wir in Nahaufnahme Schützenfische sehen, die Insekten von den Mangrovenwurzeln spucken und sich ihre Beuten von Trittbrettfahrern wegschnappen lassen, oder wenn wir die Mähnenwolfbabies in der brasilianischen Feuchtsavanne mit einem Jöh bewundern, lernen wir, fast ohne es zu merken, ganz viel über Biologie.
Im dritten Teil von «Planet Earth» kommt mit dem Einfluss der Menschen auch der Mahnfinger hervor. Etwa wenn die Seelöwen in den Fischernetzen jämmerlich und lautstark verenden. Das übliche Making-of am Ende jeder Episode ist denn auch Rettungsaktionen gewidmet. Das ist ehrlich und lösungsorientiert. Die neue moralische Schwere zerstört aber letztlich den Zauber der Bilder.

Im Wissenschaftshistoriendrama "Joy" wird die Geschichte rund um die Macherinnen und Macher des ersten Retortenbabys erzählt. | Foto: Netflix
Freude herrscht in der Reproduktionsmedizin
Am 25. Juli 1978 kam in England Louise Joy Brown zur Welt. Das erste sogenannte Retortenbaby war eine Sensation und revolutionierte die Reproduktionsmedizin. Seitdem wurden weltweit über zwölf Millionen Kinder durch Methoden wie In-vitro-Fertilisation IVF gezeugt. Browns Geburt war das Resultat einer Teamleistung von Physiologe Robert Edwards, Gynäkologe Patrick Steptoe und Krankenschwester Jean Purdy.
Letztere steht im Mittelpunkt der Filmbiografie «Joy» von Ben Taylor. Sie zeichnet den jahrelangen Weg von ersten Experimenten bis zur Geburt von Louise Joy Brown nach, zuweilen etwas klischiert – etwa, wenn Forscher an Edwards’ Lab als ziemlich zerstreute Persönlichkeiten auftreten. Purdy hingegen wird als Frau skizziert, die durch ihre Endometriose persönlich motiviert ist, anderen Frauen zu Kindern zu verhelfen, und dabei in Konflikt mit der strenggläubigen Mutter und der Kirche gerät.
Insgesamt ist «Joy» ein unterhaltsames und lehrreiches Wissenschaftshistoriendrama, dem manchmal jedoch die Tiefe fehlt: Die Kritik, die den modernen Geburtshelfenden nicht nur von der Kirche und der Gesellschaft, sondern auch von der etablierten Medizin entgegenschlägt, scheint an den männlichen Forschern ziemlich abzuprallen. Die Stärke des Films liegt im Fokus auf die Frauen – nicht nur auf Purdy, sondern auch auf diejenigen, die als Probandinnen Hoffnung in die neue Technologie setzten, enttäuscht wurden, aber letztlich auch die Geburt von Louise Joy Brown ermöglichten.
Am Ende ist «Joy» eine Hommage: «Ohne Jean wäre das alles nicht möglich gewesen», sagt Edwards am Ende des Films. Er hatte 2010 den Nobelpreis erhalten. Die öffentliche Anerkennung für Purdy kam dann 2015: 40 Jahre nach ihrem Tod wurde ihr Name am Ort des Geschehens in Oldham verewigt.

Ein verzweifelter Wissenschaftler versucht mit seiner Forschung sein krankes Kind zu retten. | Foto: Netflix
Das Baby macht Schwierigkeiten
Zuerst ein Hinweis in eigener Sache: Dieser Film ist in gewissem Sinne auch ein Horizonte-Baby. Für die Ausgabe 137 (Juni 2023) hatten wir einen Fotografen an das Set des Schweizer Regisseurs Simon Jaquemet geschickt, um den damaligen Fokus zum Thema «Von Film, Fakt und Fiktion» zu bebildern. Die ästhetische Kälte der Fotos von damals findet sich tatsächlich auch im Film wieder.
Doch nun zur Geschichte: Das frisch geborene Kind des erfolgreichen KI-Forschers Sonny und seiner Partnerin Akiko hat einen unheilbaren genetischen Defekt. Die Chance, dass es das erste Jahr überlebt, liegt bei höchstens 30 Prozent.
Sonny will es nicht wahrhaben, und statt die wenige Zeit mit dem Kind zu geniessen, setzt er auf die Fähigkeiten seines anderen Babys: Eine von ihm geschaffene KI wird in einer virtuellen Welt trainiert und soll mit Internetzugang und übermenschlicher Intelligenz die Krankheit heilen. Natürlich geht das Ganze schief, der Schluss hält dramatische Überraschungen bereit.
Die Erzählung ist äusserst vielschichtig und lässt einigen Interpretationsspielraum. Es geht um wissenschaftlichen Grössenwahn, die Verantwortung für eine KI mit Bewusstsein und den Umgang mit persönlichem Schicksal. Die Forschungswelt mit Zürich als Kulisse und die Vielsprachigkeit aus Englisch, Japanisch und Schweizerdeutsch wirken wie selbstverständlich. Ein paar wissenschaftliche Ungereimtheiten zugunsten des Plots gehen in Ordnung. Was fehlt, sind aber die Emotionen: Der Film kann oder will nicht wirklich berühren.