REPORTAGE
Wo Feministinnen neben Kirchenfrauen eingereiht sind
Die Pfarrfrau heiratete früher auch gleich den Beruf ihres Mannes. Wie sich deren Selbstverständnis über die Zeit verändert hat, kann Soziologin Ursula Streckeisen im Gosteli-Archiv untersuchen, wo seit über 40 Jahren Dokumente zur Frauengeschichte gesammelt werden.

Die emeritierte Soziologin Ursula Streckeisen nutzt das Gosteli-Archiv gleich doppelt: So ist einerseits ihre Vergangenheit bei den Radikalfeministinnen darin abgelegt, andererseits recherchiert sie dort auch zur Geschichte der Pfarrfrauen. | Foto: Gabi Vogt
Wer in dieser 1884 erbauten Villa nach oben will, muss zuerst an den Frauen vorbei: Das Treppenhaus im Gosteli-Archiv in Worblaufen bei Bern ist mit grossformatigen Porträts geschmückt, darunter die Journalistin Agnes Debrit- Vogel, die Pädagogin Helene Stucki und die Anwältin und Politikerin Marie Boehlen, chronologisch nach ihren Geburtsdaten geordnet. Sie alle waren Vorkämpferinnen für die politischen Rechte der Frauen. Die Namensgeberin des Archivs, Marthe Gosteli, fehlt in dieser Reihe. Ihr Konterfei steht prominent im sogenannten Gosteli-Zimmer im ersten Stock, das gleichzeitig als Lesesaal wie als Bibliothek dient.
Nur einen Steinwurf von hier entfernt ist Marthe Gosteli, Jahrgang 1917, auf dem elterlichen Bauernhof aufgewachsen. Im Wohnstock, wo heute das Archiv untergebracht ist, lebte ihre Grosstante. Als Gostelis Vater Ende der 1950er-Jahre starb, übernahm Marthe zusammen mit ihrer Schwester und ihrer Mutter die Verwaltung des grossen Bauernguts in einer von Männern dominierten Welt. Ab den 1950er-Jahren engagierte sich Marthe Gosteli im Vorstand des Frauenstimmrechtsvereins Bern, ab 1968 unter anderem im Bund Schweizerischer Frauenorganisationen (BSF, heute Alliance F), den sie in verschiedenen eidgenössischen Kommissionen vertrat.
1982 gründete sie mit ihrem Erbe schliesslich das Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung. Mit gutem Grund: Während behördliche Dokumente von Gesetzes wegen aufbewahrt werden müssen, werden private Akten selten archiviert. In den staatlichen Archiven ist deshalb die damalige politische Betätigung von Frauen nicht abgebildet.
Telefondienst selbstverständlich
In einem der getäferten Räume ist der Privatnachlass von Ursula Streckeisen zu finden: Sitzungsprotokolle, Flugblätter und so weiter zu den politischen Aktivitäten der «Radikalfeministinnen Bern-Fribourg-Biel», fein säuberlich in zehn grauen Kartonschubern abgelegt. «Sie waren Ende 1970er- und Anfang 1980er-Jahre Teil der neuen Frauenbewegung und lösten wichtige Diskussionen aus», erklärt Ursula Streckeisen, die selbst Soziologin ist. «Ich habe als aktives Mitglied die schriftlichen Materialien aufbewahrt und später ins Archiv gegeben. »
Die emeritierte Professorin der Pädagogischen Hochschule Bern und Privatdozentin der Universität Bern ist gleich in doppelter Hinsicht eng mit dem Gosteli-Archiv verbunden: Zurzeit verbringt sie nämlich rund zehn Stunden wöchentlich als Forscherin in dem geschichtsträchtigen Haus und studiert dort Dokumente der 1928 gegründeten Pfarrfrauenvereinigung.
Streckeisen – selbst in einem klassischen reformierten Pfarrhaus aufgewachsen – will sich damit ein erstes Bild davon machen, wie sich das Selbstverständnis der Ehefrauen von Pfarrern im Lauf der Jahrzehnte gewandelt hat. Lange hielten es diese selber für naturgegeben, dass die Partnerin des Pfarrers als Mithelferin ganz an dessen Seite steht: sich nicht nur um Haushalt und Kinder kümmert, sondern auch in der Kirchgemeinde aktiv ist, im Pfarrhaus «Tür- und Telefondienst» übernimmt, wie es Streckeisen formuliert, und stets für Gäste und Hilfesuchende parat ist.
Doch die gesellschaftliche Entwicklung – darunter Individualisierung, Veränderung des Geschlechterverhältnisses, Umweltthemen – erfasste auch die evangelisch-reformierte Landeskirche. 1983 veröffentlichte eine Gruppe von 19 Pfarrfrauen das sogenannte Grüne Papier mit fünf Modellen zur Rolle der Ehefrauen von Pfarrern. Darin wurde unter anderem gefordert, dass diese frei wählen können sollen, ob und wie sie sich im Amt ihres Mannes engagieren. Aus heutiger Sicht eine Selbstverständlichkeit, doch damals löste das Papier Kontroversen aus, auch von Pfarrfrauen hagelte es Kritik.
«Eine Forschungslücke sondergleichen»
Auch Streckeisens Mutter war an der Ausarbeitung des Grünen Papiers beteiligt gewesen. 1922 geboren, fügte sich die gelernte Kindergärtnerin nach ihrer Heirat mit einem Pfarrer zunächst in die vorgesehene Rolle. Später stieg sie aus dem Pfarrfrauendasein aber weitgehend aus, kehrte in ihren Beruf zurück, bildete sich weiter und engagierte sich schliesslich als SP-Kantonsrätin. «Ein solcher Weg war damals eine Ausnahme. Vielleicht habe ich sie mit meinem feministischen Engagement sogar ein bisschen beeinflusst», so Streckeisen.
Sie selbst hat unter anderem im Bereich der Professionssoziologie geforscht. Als klassische Profession gilt ein akademischer, typischerweise auf Männer zugeschnittener Beruf, der sich auf einen zentralen gesellschaftlichen Wert wie Gesundheit oder Gerechtigkeit bezieht. Wer ihn ausübt, ist für seine Klientinnen und Klienten eine Vertrauensperson. Der klassische Pfarrer ist ein typisches Beispiel. Im Gegensatz zu anderen Professionen gehören beim ihm aber auch das Pfarrhaus und die Pfarrfamilie dazu.
«Es gibt eine Verquickung von Arbeits- und Privatleben», erklärt Streckeisen. «Die klassische Pfarrfrau heiratet also nicht nur einen Mann, sondern auch dessen Beruf, der Pfarrer heiratet nicht nur eine Frau, sondern auch eine künftige Mithelferin.» In diesem Verständnis ist das Pfarrhaus denn auch mehr als ein privates Wohnhaus, es umfasst Unterrichtsräume, das Studierzimmer des Pfarrers, und es gibt Platz für Besuche. «Weil die Pfarrfamilie als Vorbild beobachtet wird, gilt es zudem als sogenanntes Glashaus», so die Soziologin.
Rund zehn Jahre nach ihrer Emeritierung begann sich Streckeisen intensiver mit dieser Thematik auseinanderzusetzen, bei der «eine Forschungslücke sondergleichen» bestehe. Ausgangspunkt für ihre Arbeit war besagtes Grünes Papier. Ursprünglich wollte sie lediglich den Aufbruch der 1970er- und 1980er-Jahre ausleuchten, das Leben von zwei Vertreterinnen der Aufbruchgeneration beschreiben, die über ihr Leben publiziert hatten – eine davon ihre Mutter –, und die zugehörigen Debatten im Pfarrfrauenkollektiv aufarbeiten. Doch dann wurde im September 2024 die Pfarrfrauenvereinigung aufgelöst. Die Forscherin entschied, dieses Ereignis und das Selbstverständnis heutiger Ehefrauen von Pfarrern in ihre Studie einzubeziehen. «Es geht mir um den Blick dieser Frauen auf ihr Leben und die Einordnung in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext», so die Soziologin.
Dafür führt sie offene Interviews und erstellt daraus Porträts. Ihre Gesprächspartnerinnen findet sie über persönliche Kontakte. Sie sucht auch noch einen oder mehrere Pfarrmänner, die über ihre Erfahrungen berichten. Im Gosteli-Archiv erforscht sie in den Unterlagen der Pfarrfrauenvereinigung auch die neueren Diskussionen, nicht zuletzt diejenigen über die Auflösung der Vereinigung und die Zukunft der Pfarrfrauen.
Am Schluss soll ein Buch oder eine Artikelreihe stehen. «Die Pfarrfrauen sollen sichtbar werden.» Dass Streckeisen selber mit dem Milieu vertraut ist, erleichtert ihr einerseits die Arbeit. «Andererseits muss ich besonders darauf achten, die Distanz zu bewahren», sagt sie. Das bereite ihr jedoch kaum Probleme: «Ich habe in forschungsbezogener psychoanalytischer Selbstreflexion Erfahrung.»
Wider das Links-Rechts-Schema
Frauen und ihre Geschichte sichtbar machen: Streckeisen handelt ganz im Sinne von Marthe Gosteli. «Ohne Geschichte keine Zukunft», sei ein Leitsatz der Archivgründerin gewesen, wie die Co-Direktorin des Gosteli-Archivs Simona Isler erzählt. Von der Vielfalt dieser Geschichte legt das Archiv ein beredtes Zeugnis ab: Insgesamt rund ein Laufkilometer Akten sind hier aufbewahrt. Dazu kommen die Bücher und Publikationen in den Regalen.
Der grösste Bestand stammt vom BSF, der grösste Privatnachlass von der Schriftstellerin und Journalistin Katharina von Arx. Seit vier Jahren ist der Betrieb mit heute acht Mitarbeiterinnen öffentlich finanziert. Bis dahin hatte das Archiv nur wenig Ressourcen, weshalb noch nicht alle abgelieferten Dokumente bearbeitet werden konnten. «Wir haben noch viel zu tun», sagt Isler.
Und es gebe auch systematische Lücken. Als Beispiel nennt sie Organisationen von Migrantinnen. «Auch die Romandie ist unterrepräsentiert. » Das Archiv hat einen hohen Anspruch: «Wir bilden hier das ganze Spektrum der Frauenbewegung ab – darunter beispielsweise auch Gegnerinnen des Frauenstimmrechts. » In der Forschung habe das Archiv zuweilen auch das Image, die sogenannte alte, bürgerliche Frauenbewegung abzubilden, während die neue Frauenbewegung im Schweizerischen Sozialarchiv in Zürich ihre Heimat gefunden habe.
«Doch die Frauenbewegung lässt sich nicht in ein Links- Rechts-Schema pressen», betont Isler. Dafür stehen auch gleich die Beispiele Ursula Streckeisen – die Radikalfeministin – und Marthe Gosteli – sie war Ehrenmitglied der SVP.