Kolumne
Wider die falschen Dilemmata
Zu oft lassen sich Politik und zuweilen auch die Wissenschaft dazu verleiten, lediglich zwei Handlungsoptionen zu präsentieren, schreibt Marcel Tanner, Präsident der Akademien der Wissenschaften Schweiz.
«Die richtige Einstellung dem Geld gegenüber ist die einer begehrlichen Verachtung.» Dem Fokusthema dieser Nummer begegne ich gerne mit dem Zitat von Henry Miller. Damit will ich vor allem verhindern, dass in mir falsche Dichotomien wachsen. Die Pandemie als einziger grosser PCR-Test für unsere Gesellschaft hat deutlich aufgezeigt, wie sehr wir gerne die Welt mit falschen Dichotomien erklären wollen. Zu oft haben uns die Politik, aber auch teilweise die Wissenschaft bloss zwei Optionen als einzig mögliche Handlungsweisen präsentiert. Alternativen wurden kaum mehr berücksichtigt und geprüft. Diese sehr ungünstigen Entwicklungen dominieren derzeit auch die Diskussion zu weiteren grossen gesellschaftlichen Fragen wie Klima, Nachhaltigkeit, Energie und Biodiversität sowie Neutralität und Friedenssicherung.
Komplexe Systeme können nicht verstanden und vereinfacht werden, indem nur zwei Positionen entwickelt oder suggeriert werden. Kritisches Reflektieren sowie das breite Spektrum von Perspektiven und damit alternativen Handlungsoptionen werden dadurch eingeschränkt. Schliesslich und noch entscheidender: Wissenschaftliches Vorgehen kann nie und darf auch nicht in falschen Dichotomien und damit falschen Dilemmata enden.
Immer wieder gilt es festzuhalten, dass wissenschaftliches Arbeiten aufzeigt, was wir zu einem bestimmten Zeitpunkt wissen und nicht wissen. Die daraus abgeleitete Wahrscheinlichkeit bildet die Basis für Handlungsoptionen, aber niemals für lediglich zwei mögliche Handlungsweisen, obwohl das zu oft von Politik und Gesellschaft gefordert wird.
Indem wir falsche Dichotomien und Dilemmata herausfordern, reflektieren wir komplexe Systeme sowie die uns zur Verfügung stehenden Lösungen und Handlungsoptionen. Nur so können wir den iterativen Dialog zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft befruchten. So schliesst sich auch der Kreis zu dieser Nummer: Stimuliert durch die Einblicke und gewonnenen Ausblicke werden wir nicht dem falschen, unsere Gesellschaften zu oft dominierenden Dilemma von weise und grossartig oder mächtig und reich verfallen.