Nahostkonflikt
Wenn die Dialogkanäle abbrechen
Von der aufgeheizten Debatte um die Ereignisse in Israel und im Gazastreifen ist auch die akademische Welt betroffen. Ein Vertreter der islamisch-theologischen Studien und ein Vertreter der Judaistik treffen sich.
Der brutale Terroranschlag der Hamas im vergangenen Jahr hat weltweit Entsetzen ausgelöst – vereinzelt aber auch Zustimmung. Dies selbst im akademischen Umfeld, wie der Post auf X eines Dozenten des Nahost-Instituts der Universität Bern zeigte, das als Folge davon nun aufgelöst wird. Er hatte den Anschlag vom 7. Oktober 2023 als Geschenk bezeichnet. Die folgenden grossflächigen Bombardierungen des Gazastreifens durch Israel haben heftige Kritik ausgelöst. Antisemitische Vorfälle nehmen seither weltweit zu – hierzulande etwa mussten die Jubiläumsfeierlichkeiten des Zentrums für jüdische Studien der Universität Basel aus Sicherheitsgründen abgesagt werden.
Im Fahrwasser der Polarisierung sind also Forschungsinstitute in den Fokus geraten. Wir wollten wissen, wie es dem Direktor des Schweizerischen Zentrums für Islam und Gesellschaft von der Universität Freiburg, Amir Dziri, und dem Geschäftsführer ad interim des Instituts für Jüdisch-Christliche Forschung der Universität Luzern, Martin Steiner, damit geht. Beide Institute sind nicht in die aufgeheizte mediale Debatte geraten und beschäftigen sich theologisch mit dem Islam respektive dem Judentum.
1 – Vom Druck, öffentlich Position zu beziehen
Dass die beiden die Einladung zu einem Treffen zu dritt in Bern angenommen haben, ist nicht selbstverständlich. Im Kontext der aufgewühlten Lage sind ihre Antworten denn auch vorsichtig. «Jüdinnen und Juden sind weltweit davon betroffen, was in Israel und Palästina passiert, aber wir sind kein Nahost-Institut, das die politische Situation in der Region erklärt», stellt Steiner – selbst nicht jüdisch – gleich zu Beginn klar.
Dziri ergänzt: «Sowohl das Judentum als auch der Islam werden stark über internationale Ereignisse wahrgenommen. Daraus ergibt sich der Reflex, zu fragen, was Juden und Muslime in der Schweiz dazu sagen. Dabei stehen diese hier in ganz anderen Lebensrealitäten und möchten oder können sich dazu gar nicht äussern.» Diese Forderungen nach Positionsbezug sind in der momentanen Verunsicherung nicht einfach auszuhalten.
2 – Umgang mit persönlicher Betroffenheit
Im Luzerner Judaistik-Institut gibt es zudem eine starke persönliche Betroffenheit durch Mitarbeitende, die teilweise zur Zeit des Anschlags in Israel waren oder von dort kommen, wie Steiner erzählt. «Wir stehen an der theologischen Fakultät aber auch mit muslimischen Mitarbeitenden der islamischen Theologie im Austausch. Es war sehr wertvoll, nach dem barbarischen Terroranschlag Mitgefühl von ihnen zu spüren.» Bei den Studierenden nimmt er Ängste in Bezug darauf wahr, wie sich der Konflikt weiterentwickelt. Auch in Freiburg habe im Oktober Fassungslosigkeit und Anteilnahme geherrscht, erinnert sich Dziri: «Gespräche gab es dann vor allem darüber, welche Auswirkungen die Anschläge auf das gesellschaftliche Zusammenleben in der Schweiz haben.» Befürchtet worden sei, dass sich nun die gesellschaftliche Polarisierung verstärkt und dass religiöse Minderheiten grundsätzlich mit mehr Misstrauen konfrontiert werden.
Mit dem Angriff der israelischen Armee auf den Gazastreifen ist es auch dort zu grossem Leid in der Zivilbevölkerung gekommen. Steiner wünscht sich, dass «die Perspektive wieder auf ein friedliches und gesichertes Miteinander im Land gerichtet wird». Gibt es in der angespannten Atmosphäre an den Instituten Tabuthemen? Nein, finden beide, und Steiner betont: «Das ist gut so, Wissenschaft muss frei sein.» Dziri beschäftigt sich fachlich seit Jahren mit muslimischem Anti-Judaismus, aber auch mit dem «Potenzial einer islamischen Friedensethik, um der Legitimierung von Gewalt durch Religion in muslimisch-extremistischen Milieus etwas entgegenzusetzen». Jüdische wie muslimische Studierende hätten «wenig Räume, wo sie ihre Anliegen jenseits starker Polarisierungen äussern können». Sympathiekundgebungen für die Hamas habe es an seinem Institut keine gegeben: «Es hat mich erschüttert, dass es Menschen gab, die ihre Freude am Anschlag zum Ausdruck brachten. Ich bin froh, dass ich in meinem Umfeld nicht damit konfrontiert wurde.»
3 – Vorbereitet für die Kommunikation in der Krise
Das Zentrum für Islam und Gesellschaft ist seit jeher mit sensiblen Fragen und kontroversen Themenlagern konfrontiert, wie Dziri erklärt. «Religion, insbesondere Islam ist ein sehr emotionales Thema, das viele Menschen stark bewegt.» Deswegen würden im Namen des Instituts schon immer nur bereits im Voraus bestimmte Personen kommunizieren. Nach den Hamas-Anschlägen seien keine besonderen Empfehlungen nötig gewesen, wie sich Mitarbeitende oder Studierende verhalten sollen.
Das gelte auch für die Social Media: «Wir haben einen Instituts-Account, auf dem wir eine nüchterne Kommunikationsstrategie fahren. Wir reagieren nicht auf Debatten, sondern machen unsere Inhalte einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich.» Auch von der Theologischen Fakultät der Universität Luzern werden Social Media für den Wissenstransfer genutzt wird, nicht als politischer Player.
4 – Unabhängigkeit der Wissenschaft bewahren
Für Steiner ist sowieso klar: «Wissenschaft und Forschung müssen neutral sein. Die Ergebnisse, die Daten und Fakten, die können dann von der Politik verwendet und gedeutet werden, aber Wissenschaftler sollten nicht Politik betreiben.» Zugleich solle die Politik aber auch nicht beeinflussen, «was wir erforschen und lehren, sodass wir unparteiisch und unabhängig bleiben». Dziri blickt Steiner an und nickt zustimmend, findet aber, dass Forschung nie vollkommen neutral sei: «Wir sind alle auch persönlich involviert mit unseren Meinungen und Haltungen.» Vor diesem Hintergrund müsse eine methodische Distanz etabliert werden, «damit wir in unserer fachlichen Äusserung nicht von unserer eigenen Gedankenwelt getrieben werden.»
Wie das konkret gehen kann, erklärt wiederum Steiner an einem Beispiel: «Studierende konfrontieren uns mit Fragen zur Verhältnismässigkeit der israelischen Politik, inwieweit man die Regierung kritisieren darf, wo die Grenzen zum Antisemitismus sind.» Sie fordern Kriterien für die Beurteilung. Dabei helfe der sogenannte 3-D-Test von Natan Scharanski. Dieser sagt unter anderem: «Wenn Doppelstandards, Delegitimierung oder Dämonisierung im Spiel sind, handelt es sich um Antisemitismus.» Es sei wichtig, den Studierenden ein anwendbares Werkzeug zu geben. (Anm. d. Red.: Mit Doppelstandards ist gemeint, dass man bei Israels Politik andere Massstäbe anlegt als bei anderen Staaten, mit Delegimitierung, dass man Israels Existenzrecht in Frage stellt, mit Dämonisierung, dass Israel als Böses schlechthin dargestellt wird.) Auch Dziri nutzt an seinem Zentrum den 3-D-Test: «Er ist eine gute Orientierung für das Gespräch und für aktuelle Diskussionen.»
5 – Nicht immer alles erklären
Das Interesse der Öffentlichkeit an Einordnung der aktuellen Ereignisse sei einerseits berechtigt, findet Dziri, er sieht andererseits eine generell problematische Entwicklung: Die Forschung stehe zunehmend unter gewissem Nützlichkeitsdruck. «Es gibt mittlerweile fast in jedem Studienpapier Empfehlungen für die Politik oder die Gesellschaft. Es wird ein Stück weit erwartet, dass die Expertise so aufbereitet wird, dass sich daraus eine konkrete Handlungsmöglichkeit ergibt.»
Aber: Nicht alles, was den Nahen Osten betrifft, kann von der Judaistik oder den islamisch-theologischen Studien erklärt werden. «Wenn es um die Instrumentalisierung des Israel-Gaza-Konflikts durch Islamisten hier in der Schweiz geht, etwa um für ihre Ideologien mehr Befürworter zu gewinnen, dann kann ich dazu beitragen, einer solchen Instrumentalisierung entgegenzuwirken», führt Dziri aus. Hingegen gehörten Fragen wie, welche politischen Zukunftsperspektiven es für den Nahen Osten gäbe, nicht zu seiner «Kernkompetenz».
6 – Dialog statt Positionierung
Dziri steht auch wissenschaftlichem Aktionismus etwa auf Social Media eher skeptisch gegenüber: «Diskussionen, in denen sich jemand mit einer Haltung positioniert, bringen mich weder intellektuell noch emotional weiter. Wichtiger wären Formate mit Möglichkeiten zum interaktiven Gespräch.» Er selbst pflege den informellen Austausch in einer interkonfessionellen Gruppe: «Das wirkliche Zusammenkommen und Haltfinden geschieht im Moment nur über persönliche Beziehungspflege, deshalb investiere ich da am meisten.» Damit könne man zwar den Nahostkonflikt nicht lösen, aber zumindest zeigen, dass Mitgefühl und Solidarität da sind. «Das ist für mich persönlich das Heilsamste, um mit der Situation umzugehen.»
Auch Steiner betont das Potenzial der Wissenschaft für den Dialog: «Weil man sich auf eine Methodenbasis oder Methodenvielfalt einigt, kann man sich hier oft noch austauschen, wo andere Dialogkanäle bereits abgebrochen oder stark erodiert sind.» Sich begegnen zu können sei etwas vom Wichtigsten. Dass dies möglich ist, haben Dziri und Steiner gleich selbst bewiesen, indem sie sich für diesen Artikel an einen Tisch gesetzt und miteinander diskutiert haben.