OZEANOGRAFIE
Falls die atlantische Umwälzpumpe versiegt
Immer wieder wird davor gewarnt, dass die Klimaerwärmung das atlantische Stömungssystem stoppt. Wie schlimm ist es wirklich? Eine Erkundungstour im tiefen Ozean der Daten, zwischen Alarmismus und tatsächlich düsteren Aussichten.
Superstürme toben über der Nordhalbkugel, die Temperaturen sinken schlagartig innerhalb von Stunden, in Neu-Delhi fällt meterhoch Schnee. Der Grund dafür: Der Golfstrom, der seit Jahrtausenden Wärme in den Nordatlantik gebracht hat, ist versiegt. Das Szenario aus dem Hollywood-Streifen «The Day After Tomorrow» hat vor zwanzig Jahren die Bilderwelt für den Albtraum eines versiegenden Golfstroms geliefert. «Ein Stillstand innerhalb weniger Tage, wie ihn Hollywood zeigt, ist Alarmismus», sagt Thomas Frölicher von der Universität Bern. «Solche Vorgänge passieren in Zeiträumen von fünfzig bis hundert Jahren.»
Überhaupt gibt der Klimaforscher, der sich mit dem häufiger werdenden Phänomen mariner Hitzewellen beschäftigt, für den Golfstrom Entwarnung. «Er wird nie versiegen, denn er ist windgetrieben.» Aber die Experten warnen dennoch, dass da im Nordatlantik durchaus klimarelevante Veränderungen von globalem Ausmass vor sich gehen. Im Fokus ist dabei die sogenannte atlantische meridionale Umwälzzirkulation, kurz Amoc, die in der Öffentlichkeit gern auch mal mit dem Golfstrom gleichsetzt wird.
Tatsächlich ist der Golfstrom, eine warme Oberflächenströmung zwischen Florida und Europa, nur ein kleiner Teil der Amoc. Deren Strömungssystem erstreckt sich über den gesamten Atlantik, vom Südpolarmeer bis in den hohen Norden. Es befördert gigantische Wassermengen um die Welt – fünfzehn Millionen Kubikmeter pro Sekunde – und bringt letztlich den Hauptteil der Wärme in den nördlichen Atlantik. Noch. Denn, so sagen es einige Klimaforscher, eventuell stottert ihr Motor.
Viel grösseres Risiko ab 1,5 Grad Erderwärmung
Dieser befindet sich im Nordatlantik, wo Oberflächenwasser abkühlt, dadurch an Dichte gewinnt und absinkt und dann in bis zu 3000 Metern Tiefe am Meeresboden entlang nach Süden strömt. Wird dieser Sinkprozess etwa durch süsses, weniger dichtes Schmelzwasser unterbrochen – zum Beispiel vom Grönland- Eisschild –, kann dies zu einer Abschwächung der Zirkulation führen.
Manche, wie jüngst ein Team der Universität Kopenhagen, halten einen kompletten Stillstand deswegen doch für möglich. Dies bereits im Jahr 2025. «Ein Erliegen oder eine starke Verlangsamung der Amoc hätte erhebliche Auswirkungen auf unser Klima», sagt Frölicher.
Die Folgen eines Stillstands wären weltweit spürbar, mit steigenden Meeresspiegeln entlang der nordamerikanischen Ostküste, Stürmen bis Hurrikanstärke in Europa, stark sinkenden Temperaturen auf der Nordhalbkugel, steigenden auf der Südhalbkugel. Da sich der Nordatlantik abkühlen würde, hätte dies auch Auswirkungen auf grosse Wettersysteme wie den indischen Monsun.
Forschende wissen seit Jahrzehnten, dass die Amoc einen Kipppunkt hat, ab dem sie instabil werden kann. «Wir wissen nur nicht, wo genau dieser Kipppunkt liegt», so Frölicher. «Doch zwischen 1,5 und 2,5 Grad globaler Erderwärmung steigt das Risiko des Überschreitens von Kipppunkten deutlich.»
Zu wenig Daten aus der Tiefe
Also versuchen Forschende, den mächtigen Strom genauer zu erfassen. «Wir verstehen die Amoc immer noch erstaunlich schlecht», sagt der Klimaforscher Niklas Boers von der Technischen Universität München. «Es gibt ein massives Problem mit den Messdaten.» Erst seit 2004 beobachten zwei grosse ozeanografische Programme das Stromsystem. Doch dieser Zeitraum reicht nicht aus, um die Dynamik der Amoc zu erfassen.
Kurzfristige Verlangsamungen um bis zu zwanzig Prozent, wie sie seit 2004 gemessen wurden, können auch ohne grosse Veränderungen der Gesamtdynamik normal sein. «Wir haben es mit starken, nicht linearen Phänomenen zu tun», sagt Boers. Für valide Berechnungen bräuchten die Klimaforscher Daten aus Zeiträumen von mindestens hundert Jahren. Zudem finden die Messungen von Geschwindigkeit und Salzgehalt auch meist an der Oberfläche, nicht in der Tiefe statt und auch nur punktuell. Die Klimaforschenden weichen aufgrund der fehlenden langfristigen Daten für ihre Modelle deswegen auf eher kurzfristige Indizien aus.
Der Salzgehalt des Südatlantiks ist so eines, ebenso Veränderungen in einer Region im Nordatlantik, der sogenannten subpolaren Kälteblase. Die weiter oben erwähnte, kontrovers diskutierte Studie der Statistikerin Susanne Ditlevsen und des Klimaphysikers Peter Ditlevsen von der Universität Kopenhagen aus dem Juli 2023 hatte genau diese Kälteblase als Basis ihrer Modellierung verwendet. Und mit ihrer Auswertung für Wirbel gesorgt: Die Amoc werde mit einer 95-prozentigen Wahrscheinlichkeit zwischen 2025 und 2095 kollabieren, möglicherweise schon im Jahr 2025.
Klimaforscher weltweit äusserten grosse Zweifel an der Aussagekraft des Modells, insbesondere daran, dass kleinere Temperaturveränderungen der Kälteblase die Zirkulation relativ schnell in einen anderen Zustand bringen könnten. Niklas Boers, der auch am Potsdam- Institut für Klimafolgenforschung arbeitet, spricht von «zu grober Vereinfachung». Aufgrund von statistischen Unsicherheiten ergebe sich für den Kipppunkt der Amoc letztlich ein Zeitraum von «heute bis ins Jahr 5000», auch dies unter stark vereinfachenden Annahmen, die in der Realität nicht gelten müssen.
Amoc kam auch schon zum Erliegen
Boers arbeitet in seinen Modellen ebenfalls mit kurzfristigen Indizien. Er versucht allerdings eher, die Stabilität des Strömungssystems zu testen. Wie sensibel reagiert Strömung auf kurzfristige Störungen, auf tatsächlich beobachtete Wetterschwankungen etwa? «Physikalisch betrachtet sehen wir, dass die stabilisierenden Kräfte schwächer werden, wenn das System kurzfristig aus dem Gleichgewicht geraten ist», erklärt er. «Das könnte ein ernster Hinweis darauf sein, dass wir uns dem Kipppunkt der Amoc nähern.»
Modellierung ist aber nur ein Weg, die Zirkulation zu verstehen. Auch ein Blick in die Vergangenheit kann wertvolle Hinweise liefern. Paläoklimatologen versuchen, in Erdbohrkernen Hinweise auf abrupte Änderungen der grossen Wasserwalze zu finden. Die Amoc kam im Lauf der Erdgeschichte auch ohne menschliches Zutun zum Erliegen, so vor 55 Millionen Jahren während des sogenannten Paläozän- Eozän-Temperaturmaximums. Damals stiegen die Temperaturen abrupt an.
Auch während der letzten Eiszeit hatten Instabilitäten der Amoc zu Klimaveränderungen geführt, dazu zählen die sogenannten Dansgaard-Oeschger- Ereignisse in der Zeit zwischen 120 000 und 15 000 Jahren vor heute, deren Mitnamensgeber der Berner Physiker und Klimapionier Hans Oeschger ist.
Letzte Eiszeit hilft zu verstehen
Am zu seinen Ehren benannten Oeschger-Zentrum der Universität Bern widmeten sich die Klimaphysiker Frerk Pöppelmeier und Thomas Stocker im April 2023 mit einer Studie den Prozessen zum Ende der jüngsten Eiszeit vor 15 000 Jahren. Damals setzte die Schmelze der Eisschilde über Nordeuropa und Nordamerika ein. «Dadurch entstand im Nordatlantik eine Art Frischwasserdeckel», erklärt Pöppelmeier. Zusätzlich zu seiner geringeren Dichte verhinderte dieser Deckel, dass das Oberflächenwasser ausreichend abkühlte, was zu einer Abschwächung der Amoc führte.
Allerdings war die Zirkulation während der letzten Eiszeit in einem signifikant anderen Zustand als aktuell. Das Berner Team analysierte Eisbohr- und Sedimentkerne aus dem gesamten Atlantikraum. Die Indikatoren der Meeresströmung deuten darauf hin, dass zu Beginn der letzten Eiszeit weniger Schmelzwasser in den Nordatlantik floss als bisher angenommen. «Es kam damals trotz des Temperaturanstiegs nicht zu einem vollständigen Kollaps der Zirkulation, sondern lediglich zu einer Abschwächung», so Pöppelmeier.
Die Modelle vergangener Veränderungen der Amoc helfen Klimaforschenden, auch heutige Dynamiken besser zu verstehen. Sie erlauben es, den menschgemachten Einfluss durch den vermehrten CO²-Ausstoss besser zu erfassen und gleichzeitig die Unsicherheiten aktueller Modelle zu minimieren. Dass sich die Amoc im 21. Jahrhundert weiter verlangsamen wird, erscheint wahrscheinlich. Doch die Frage nach dem Stillstand bleibt ungeklärt. Noch wisse die Klimawissenschaft zu wenig über die Kipppunkte, um robuste Aussagen darüber zu machen, wie nahe wir heute daran sind, sagt Thomas Stocker.
Sein Münchner Kollege Niklas Boers arbeitet gerade an einer Studie, die solche Unsicherheiten berücksichtigt. Für ihn ist klar: «Die Amoc hat im letzten Jahrhundert an Stabilität verloren, wir bewegen uns bei zunehmender menschengemachter Erderwärmung auf einen möglichen Kipppunkt zu. Wir spielen mit dem Feuer, wenn wir die CO²-Emissionen nicht so schnell wie möglich auf null reduzieren.»