Irgendwo am Rand von welchem Land eigentlich? Ein Biosphärenreservat mitten in der Karpatenukraine im Jahr 2019. | Foto: Dimatrofimchuk / Wikimedia Commons

Langgezogene Bergketten mit dichten Wäldern, abgelegene Täler, unten in der Ebene Äcker und Felder: Das Gebiet um die Karpaten im äussersten Westen der heutigen Ukraine, grenzend an Rumänien, Ungarn, die Slowakei und Polen, ist knapp so gross wie ein Drittel der Schweiz. Es galt von jeher als peripher und war dennoch stets äusseren Einflüssen ausgesetzt. Zu Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine zogen zahlreiche Flüchtlinge durch die Region. Heute ist auch sie immer wieder von mehrstündigen Stromausfällen betroffen.

Die Karpatenukraine, auch als Transkarpatien bekannt, bildet die Heimat verschiedenster Bevölkerungsgruppen, die das Gebiet im Lauf der Zeit besiedelten: Ruthenen – eine seit dem 19. Jahrhundert geläufige Bezeichnung für ostslawische Gruppen ausserhalb Russlands –, Ukrainerinnen, Ungarn, Deutsche, Rumänen, Polinnen, Juden, Roma sowie Slowakinnen und Tschechen. Das Leben in dieser Region, lange Teil von Österreich-Ungarn, verlief vor dem Ersten Weltkrieg relativ ruhig.

«Nicht die Menschen gingen über Grenzen, die Grenzen gingen über die Menschen hinweg.»Julia Richers

Doch dann wechselten die Besatzungsmächte in rascher Folge: Rumänische, ungarische, französische und tschechoslowakische Truppen lösten sich ab, bis das Gebiet 1920 der eben gegründeten Tschechoslowakei übertragen wurde. Nachdem sich Ungarn im November 1938 Teile der Region wieder einverleibt hatte, riefen lokale Akteure am Tag der Zerschlagung der Tschechoslowakei 1939 eine unabhängige Karpatenukraine aus – die jedoch nur 27 Stunden lang bestand. Die Region kam unter ungarische Herrschaft, wurde mit der Ankunft der Roten Armee wieder der Tschechoslowakei und schliesslich 1946 der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik zugesprochen.

«Nirgends in Europa gab es zwischen den Weltkriegen so viele Grenzverschiebungen und Staatswechsel wie hier», sagt Julia Richers, Osteuropa-Historikerin und Professorin an der Universität Bern. Die Bevölkerung musste bis zu 17 militärische Besetzungen über sich ergehen lassen, und das in nicht einmal drei Jahrzehnten. Viele erlebten einen sechsfachen Staatswechsel – manche sogar, ohne je ihr Heimatdorf zu verlassen. Im Gespräch zitiert Richers ein weit verbreitetes Bonmot aus jener Zeit: «Nicht die Menschen gingen über Grenzen, die Grenzen gingen über die Menschen hinweg.»

Briefe, Tagebücher, Fotoalben, Filme

Nach welchen Plänen gingen die wechselnden Machthaber bei ihren Besetzungen vor? Wie wirkten sich die ständigen Regierungswechsel auf den Alltag und das Zusammenleben der Bevölkerung aus? Und wie gingen die einzelnen Menschen mit den Veränderungen um? Solchen Fragen will ein Forschungsteam um Richers auf drei Ebenen nachgehen: aus Sicht der staatlichen Akteure, der verschiedenen sozialen Gruppen und – nicht zuletzt – der betroffenen Individuen.

«Die Zwischenkriegszeit ist in dieser Region nur sehr spärlich erforscht, und vieles liegt noch völlig im Dunkeln», sagt Richers. Das Projekt in Zusammenarbeit mit ukrainischen Forschenden steht noch am Anfang, es soll 2027 abgeschlossen werden. Um Antworten auf ihre Fragen zu erhalten, suchen die Wissenschaftlerinnen derzeit nach Dokumenten in staatlichen und privaten Archiven und Sammlungen: Sie studieren Lebensläufe und Nachlässe, lesen Briefwechsel und Tagebücher, konsultieren Gerichts- und Polizeiakten, aber auch Fotoalben, Filmmaterial und Tonaufnahmen von Zeitzeugen.

«Lehrer verweigerten den Treueschwur auf die neue Republik, andere protestierten gewaltsam gegen Steuereintreiber und Gendarme.»Berenika Zeller

«Wir sehen bereits jetzt, wie stark diese scheinbar so abgelegene Region von den Nachbarstaaten geprägt wurde», so die Historikerin. Besonders wichtig ist ihr, die Forschung mehrsprachig zu betreiben: unter anderem in Russisch, Ukrainisch, Ungarisch, Rumänisch, Tschechisch, Slowakisch und Jiddisch. Denn mehrsprachig, das heisst immer auch: aus verschiedenen Perspektiven. Wie die Tschechoslowakei das Gebiet nach dem Ersten Weltkrieg in Beschlag nahm, untersucht zum Beispiel Doktorandin Berenika Zeller.

Die Prager Regierung startete damals ein ehrgeiziges sogenanntes Modernisierungsprogramm: Strassen und Schienen wurden gebaut, Telefonleitungen installiert, Grenzwachtposten, Schulen und Spitäler errichtet. Der Staat schickte Tausende von Beamten, Krankenschwestern, Geografen, Polizisten und Lehrerinnen in die Karpaten, die sich dort niederliessen. Ziel war es, die Region für die tschechoslowakische Republik einzunehmen, sie in den neuen Nationalstaat zu integrieren – gleichzeitig aber auch, sie zu kontrollieren. Die von oben verordnete Sicherheitspolitik führte in der örtlichen Bevölkerung wiederholt zu Widerstand: «Lehrer verweigerten den Treueschwur auf die neue Republik, andere protestierten gewaltsam gegen Steuereintreiber und Gendarmen», so Zeller.

Schulfeier in der Karpatenukraine der 1930er-Jahre.| Foto: Paměť národa

Untersucht wird im Projekt auch die Situation der Mehrheitsbevölkerung, der ostslawischen Ruthenen. «Trotz ihrer zahlenmässigen Stärke wurden sie von den Besatzenden allzu oft wie eine Minderheit behandelt», konstatiert Doktorandin Michèle Häfliger. Jede neue Regierung habe versucht, diese Bevölkerungsgruppe für sich zu gewinnen, und tat dies meist gezielt mittels Propaganda.

Das zeige sich etwa in Dokumenten von Parteien, Vereinen, Kirchen, Schulen und anderen Organisationen. Die staatlichen Bemühungen hatten nicht immer Erfolg, wie Häfliger sagt: «Viele Menschen lebten in solch ärmlichen Verhältnissen, dass sie eher mit alltäglichen Sorgen kämpften, als sich mit so etwas wie Nationalbewusstsein zu beschäftigen.»

«Bei jedem Staatenwechsel unterstellten die neuen Machthaber gerade den Juden und Jüdinnen, sich nicht genügend zu integrieren.» Julia Richers

Unter starkem Druck stand ausserdem die jüdische Bevölkerung, die in den urbanen Zentren, aber auch in abgelegenen Dorfgemeinschaften lebte. «Bei jedem Staatenwechsel unterstellten die neuen Machthaber gerade den Juden und Jüdinnen, sich nicht genügend zu integrieren, sich illoyal zu verhalten oder gar für fremde Mächte zu spionieren», erklärt Richers: «Diese Vorwürfe ziehen sich wie ein roter Faden durch diese Zeit.»

Im Lauf der Geschichte habe die jüdische Bevölkerung gelernt, dass grosse Veränderungen selten Gutes bedeuten. Mit der multiethnischen Nachbarschaft scheint man weitgehend friedlich zusammengelebt zu haben, während es unter den Mitgliedern verschiedener jüdischer Glaubensrichtungen zuweilen zu Spannungen kam.

Dreisprachiger Lebensmittelladen

Dass die Grenzen zu den Nachbarregionen wohl durchlässiger waren, als deren Regierungen lieb war, belegen erste Hinweise: Heiraten über die Grenzen hinweg waren keine Seltenheit, ebenso wenig weit verzweigte Familienbeziehungen und wechselnde Vereinszugehörigkeiten. Wer sich nicht anpassen musste oder wollte, zog sich zurück und wartete erst einmal ab, bis der nächste Regierungswechsel kam.

Diese Haltung wirkte sich für einzelne Bevölkerungsgruppen verhängnisvoll aus – besonders für die jüdische. Viele versuchten zwar auszuwandern, aber erst, als es bereits zu spät war. Im Holocaust wurden rund 90 Prozent der jüdischen Bevölkerung der Karpatenukraine ermordet.

«Viele Menschen lebten in solch ärmlichen Verhältnissen, dass sie eher mit alltäglichen Sorgen kämpften, als sich mit so etwas wie Nationalbewusstsein zu beschäftigen.»Michèle Häfliger

«Die Menschen in Grenzregionen sind sich meist bewusst, dass sie bei kriegerischen Auseinandersetzungen besonders gefährdet sind», erläutert Richers. Ihr neu entwickeltes Konzept der «Border Biographies» will die Geschichten der Menschen aus solchen Gebieten in den Mittelpunkt rücken und ihre lebensweltlichen Erfahrungen untersuchen. Gerade in Ostmittel- und Osteuropa liessen sich mit diesem Konzept die komplexen historischen Zusammenhänge besser verstehen. Die traditionelle Geschichtsschreibung nehme meist die Perspektive der Nationalstaaten und deren Machtinteressen ein: «Wir dagegen fragen uns, wie die Geschichte der Grenzen und wechselnden Besatzungen die Menschen vor Ort prägte.»

Was haben die politischen Veränderungen der Zwischenkriegszeit in der Karpatenukraine zurückgelassen? Sind überhaupt noch sichtbare Spuren geblieben? Eine direkte Verbindung zwischen den damaligen Ereignissen und heute lasse sich kaum ziehen – zu viele ethnische Vertreibungen habe es seither gegeben, hält Richers fest. Und doch gibt es Details, die die Jahrzehnte überdauert haben: So entdeckte die Historikerin in der Stadt Užhorod an der Grenze zur Slowakei einen kleinen Lebensmittelladen, der noch immer dreisprachig, in Ukrainisch, Ungarisch und Tschechisch, angeschrieben ist – ein Überrest aus wechselhaften Zeiten.