Fokus: Von Nichts kommt viel
«Du möchtest sterben. Erzähl mir davon»
Was, wenn ein Mensch nur noch Leere fühlt oder sogar das letzte Nichts herbeisehnt. Emmy van Deurzen, existenzielle Psychotherapeutin, blickt mit ihren Klientinnen und Klienten in die Abgründe und holt mit ihnen genau daraus Kraft.

Emmy van Deurzen hat als Jugendliche versucht sich das Leben zu nehmen. Heute gibt diese Erfahrung der Psychologin einen festen Grund um mit verzweifelten Menschen zu arbeiten. | Foto: Lily Miles
Emmy van Deurzen, Sie arbeiten mit Menschen, die Krieg und Katastrophen erlebt haben. Wie geht man damit um, wenn vom bisherigen Leben nichts mehr übrig bleibt?
Als junge Therapeutin habe ich viel mit Holocaust- Überlebenden gearbeitet, später mit Menschen, die den Krieg in Vietnam erlebt haben, den Krieg auf dem Balkan, in Afghanistan oder aktuell in der Ukraine. Was ich immer wieder feststelle: Es gibt keine Formel. Manche Menschen gehen unfassbar intakt aus diesen Verlusten und Gräueln hervor und sind imstande, grosse Herausforderungen anzugehen und für sich ihre Bestimmung zu finden. Andere reagieren tief verstört.
Sie geht ans Eingemachte
Emmy van Deurzen (73) ist existenzielle Psychotherapeutin, Philosophin sowie beratende Psychologin. Die Gastprofessorin und gebürtige Niederländerin führt mehrere Studiengänge an der Middlesex University und ist Gründerin und Leiterin der New School of Psychotherapy and Counselling in London. Sie betreibt eine eigene Therapiepraxis und ist Präsidentin des weltweiten Existential Movement.
Was ist bei den Menschen besonders, die verstört reagieren?
Meist sind das Personen, die sich in einer passiven Rolle wiederfinden – Frauen etwa, deren Männer an der Front sind, die sich dem Schicksal vollkommen ausgeliefert fühlen. Existenzielle Krisen können aber auch ganz andere Gründe haben: Jemand hat seinen Job verloren, in sein Haus wurde eingebrochen, oder die Hoffnung in die globale Zukunft ist weg.
Sie arbeiten mit der existenziellen Psychotherapie. Diese will Menschen unterstützen, ihre Werte zu entdecken und einen Lebenssinn für sich zu finden. Dazu gehört auch der Blick ins letzte Nichts: der Tod. Warum ist dieser so wichtig?
Hinter den anfänglichen Sorgen, die jemanden in eine Therapie bringen, verbergen sich meist ganz grundsätzliche Fragen: Wer bin ich? Wozu lebe ich? Wie gehe ich mit meiner Sterblichkeit um? Ich glaube, die meisten psychischen Probleme haben damit zu tun, dass uns der Zweck unseres Daseins abhandengekommen ist. Wenn wir uns diesen Fragen zuwenden, stellen wir bald einmal fest, dass wir die Antworten darauf selbst finden, mehr noch: dass wir längst verbunden sind mit allem, was wirklich zählt im Leben, mit den Menschen, die uns am Herzen liegen, aber ebenso mit Ideen, Dingen, die uns wichtig sind, mit der Fähigkeit, das Leben zu verstehen und Schritt für Schritt freier zu leben.
Sie selbst mussten sich schon früh mit dem Sterben auseinandersetzen. Als Zehnjährige haben Sie nur knapp einen schweren Verkehrsunfall überlebt.
Nach dem Unfall lag ich wochenlang mit sehr schweren Kopfverletzungen im Spital und durfte mich nicht bewegen. Ich erinnere mich gut daran, wie sehr sich die Menschen um mich herum sorgten, dass ich sterben könne. Ich selbst aber hatte weder eine Vorstellung vom Tod, noch machte er mir Angst. Vielmehr sorgte ich mich, wie das Leben weitergehen würde: Hatte ich Verletzungen davongetragen, die einen normalen Alltag unmöglich machen würden? Von diesem Moment an war für mich persönlich klar: Sterben ist der einfachere Weg. Schwierig ist es, mit allem zu leben, was einem das Leben so vorsetzt. Ganz konkret wurde das für mich als Teenager mit gebrochenem Herzen. Damals versuchte ich, mir das Leben zu nehmen. Der Tod war für mich ein sicherer Hort, der mir Zuflucht bieten würde.
Wie wirken sich diese Erfahrungen auf Ihre Arbeit heute aus?
Das Bild des Todes als sicheren Hort begleitet mich bis heute und gibt mir festen Grund, wenn ich mit suizidalen Menschen arbeite. Ich kann ein therapeutisches Gespräch führen, ohne das Gefühl zu haben, jemanden vom Suizid abhalten zu müssen. Ich kann der Person gegenübersitzen und sagen: Okay, du möchtest also sterben. Erzähl mir mehr davon. Ich bin meinem Gegenüber in diesen Momenten sehr nahe und vermag seine Verzweiflung auszuhalten. Der Mut von mir als Therapeutin, in ihre Abgründe zu schauen, überträgt sich auch auf meine Klientinnen und Klienten.
Was bedeutet das genau?
Die Personen wagen es irgendwann, andere Wege als den Suizid zu ergründen, um dasjenige Leben loszulassen, das sie so tief ins Leid getrieben hat. Sie trauen sich, dem eigenen Tod direkt ins Auge zu blicken. Diese Verzweiflung, aber vor allem auch den grossen Mut, der für einen solchen Schritt nötig ist, können sie ebenso gut darauf verwenden, ihr Leben zu verändern. Zu dieser Erkenntnis möchte ich meine Klientinnen und Klienten führen. Es gibt immer etwas, das uns lieb und kostbar genug ist, dass wir es aus den Flammen holen wollen. Wir müssen nur wissen, wo suchen.
Depressionen werden oft als innere Leere beschrieben, manchmal auch als Fehlen jeglicher Gefühle.
Selbst wo jegliche Emotion abwesend scheint, gelingt es mir meist innert weniger Minuten, eine Gefühlsregung auszumachen. Es gibt immer etwas, das uns frustriert oder irritiert – sei es das Essen, das uns vorgesetzt wird, oder der Hals, der schmerzt. Genau dort setzen wir Therapeutinnen und Therapeuten an.
Was heisst das?
Wir erschliessen aus diesen alltäglichen Ärgernissen, Sorgen und Wünschen ganz langsam das gesamte Geflecht der menschlichen Existenz. Aus der Perspektive der existenziellen Therapie ist das Ausschlaggebende an einer Depression: Ich habe mir mein Leben sehr, sehr klein gemacht. Ich gebe mir keinen Raum mehr für Gedanken an die Vergangenheit oder Fantasien über die Zukunft. Ich erlaube mir nicht mehr, mit allen Sinnen im Hier und Jetzt zu sein. Genau diese Prozesse sind es aber, die uns ausdehnen und unseren Platz in der Welt einnehmen lassen.
Im Bus habe ich oft den Eindruck: Kaum eine schaut mehr einfach aus dem Fenster und geht ihren Gedanken nach, jede hängt an ihrem Handy. Verlieren wir die Fähigkeit, einfach nichts zu tun?
Wir leben alle diese übervollen Leben. Die Tage sind voller Ablenkungen und voller Alltagsprobleme, die uns irgendwann unüberwindbar scheinen. Wir denken dann, dass wir uns doch dauernd mit unserem Leben beschäftigen – dabei lenkt das meiste nur von der eigentlichen Frage ab: Was tun wir eigentlich hier? Denn das ist ja das Paradoxe: Erst, wenn wir Leere zulassen und uns erlauben, offen zu sein, nicht zu wissen, nichts zu tun, sind wir ganz im Moment präsent. Das bedeutet zu begrüssen, was auch immer im Leben geschieht, und uns nicht vor unseren Gefühlen zu verschanzen, welcher Art sie auch seien. Dann wissen wir auch wieder, wer wir sind, und werden uns gewahr: Es ist bereits alles da, in jeder und jedem von uns.
Laut einer breit diskutierten Studie der Universität Virginia von 2014 ziehen erstaunlich viele Menschen es vor, sich einen elektrischen Schock zu verabreichen, statt mit sich allein zu sein. Diese Interpretation wird inzwischen auch kritisiert, doch eines scheinen alle problematisch zu finden: dass sich der untätige Geist stets dem nächsten Problem zuwendet, statt bei angenehmen Gedanken zu verweilen. Doch ist das so schlimm?
Nach mehr als fünfzig Jahren als Therapeutin kann ich eine Prognose mit absoluter Gewissheit machen: So sicher, wie eines Tages der Tod kommt, stellt uns das Leben täglich vor neue Hürden. Doch wir sind dazu gemacht, Probleme anzugehen, kreativ zu sein, einfallsreich. Das sollten wir ernst nehmen, statt zu versuchen, uns davor zu drücken. Vielleicht liegt der Sinn des Lebens ja genau darin: Dass wir uns nicht über die Schwierigkeiten und Rückschläge grämen, sondern sie annehmen und angehen und dies sogar auskosten, zeigt es uns doch: Wir sind am Leben.
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