Wilder Westen unter Schweizer Böden
Der Ansturm auf das Erdreich ist mittlerweile auch hierzulande riesig. Rechtlich gesehen handelt es sich aber noch weitgehend um Niemandsland.
Der Leistungsausweis der Schweiz im Untergrund ist rekordverdächtig: Sie hat mit dem Gotthard den zweitlängsten Personentransporttunnel der Welt, ist mit dem LHC-Beschleuniger am Cern Teil des weltweit grössten wissenschaftlichen Experiments unter dem Boden und besitzt ein Labyrinth aus Gängen und Bunkern, durch das die Alpen einem Stück Emmentaler gleichen. Doch während die Schweiz in der unterirdischen Ingenieurskunst brilliert, «wähnt man sich eher im Wilden Westen, was die rechtliche Situation betrifft», meint Olivier Lateltin, Bereichsleiter Landesgeologie bei Swisstopo. «Ein wenig bekanntes und kaum reguliertes Gebiet, in dem manchmal einzig das Gesetz ‹first come, first served› gilt.»
Tatsächlich wissen die Behörden meist nicht so genau, was sie unter ihren Füssen verwalten sollen. «Im Gegensatz zu anderen Ländern hat die Schweiz ihre Tiefen erst wenig erforscht, weil keine bedeutenden Erdöllagerstätten entdeckt wurden», erklärt Nathalie Andenmatten, Leiterin des Erdwärme-Programms des Kantons Genf. «Während des Zweiten Weltkriegs etwa untersuchten Frankreich und Deutschland ihren Untergrund insbesondere aus strategischen Gründen, mit dem Ziel einer Energieautarkie.»
Die Wissenslücken erstrecken sich im Übrigen nicht nur auf tiefe Schichten, sondern selbst auf das, was sich weniger als 30 Meter unter dem Boden befindet. Nur einige grössere Städte verfügen über genaue Informationen zu ihrem Leitungsnetz. In den übrigen Gebieten fehlen diese Angaben ganz, sind nur lückenhaft vorhanden oder schwer erhältlich. «Der Kataster des Untergrunds gleicht einem Niemandsland», meint Olivier Lateltin. «Um zu den gesuchten Informationen zu kommen, müssen oft verschiedene Akteure kontaktiert werden, wie Telekomanbieter oder Elektrizitätswerke der Gemeinden.»
Schwammige Gesetze
Zum lückenhaften Wissen kommt eine überaus schwammige Gesetzgebung: In der Schweiz gibt es noch kein eigenes Bundesgesetz für den Untergrund. Faktisch wurde versucht, die Frage mit Artikel 667 des Zivilgesetzbuchs zu regeln, wonach sich das Grundeigentum «nach oben und unten auf den Luftraum und das Erdreich erstreckt, soweit für die Ausübung des Eigentums ein Interesse besteht». Ein solches Interesse besteht beispielsweise, wenn dem Boden Wärme entnommen wird, um ein Gebäude zu heizen. Nach römischem Recht umfasst das Grundeigentum dagegen uneingeschränkt den ganzen Bereich bis zum Erdzentrum. Für Thierry Largey, Experte für Raumplanungsrecht an der Universität Lausanne, «ist die Frage, welcher Bereich des Untergrunds privat und welcher öffentlich ist, nicht beantwortet».
Diese Situation wird immer wieder zu Problemen führen, insbesondere weil die Gebäude immer höher werden und daher eine immer tiefere Verankerung erfordern. «Verschärft wird die Lage dadurch, dass sich die Verankerung je nach Geländeverlauf über das Grundstück hinaus erstrecken kann», fährt der Forscher fort. «Muss der Eigentümer nun eine Bewilligung vom Nachbarn oder eher vom Kanton einholen?» Gleichzeitig werden zur Nutzung der Erdwärme für das Heizen von Gebäuden immer mehr Sonden bis in Tiefen von 300 Metern getrieben, wodurch sich das «Interesse für die Ausübung des Eigentums an der Oberfläche» auf immer grössere Tiefen erstreckt.
Ausserhalb des privaten Grundeigentums ist der Untergrund ein öffentliches Gut, genau wie Seen, Gletscher oder nicht kulturfähiges Land. Für die Nutzung dieser Räume liegen die Hoheitsrechte durch das Verwaltungsrecht bei den Kantonen. «Die Verwaltung des Untergrunds ist allerdings stark fragmentiert», meint Thierry Largey. «Es besteht kein Gesamtkonzept und keinerlei Harmonisierung zwischen den Kantonen. Einige kantonale Gesetze gehen auf das 19. Jahrhundert zurück, andere wurden kürzlich überarbeitet.» In einigen Kantonen gibt es überhaupt keine spezifischen Gesetze zu Bereichen wie Geothermie. Auf Bundesebene wird die Nutzung des Untergrunds im Raumplanungsrecht ebenfalls nicht ausdrücklich erwähnt. Immerhin ermöglichen Planungs- und Raumordnungswerkzeuge auf den Ebenen von Bund und Kantonen eine gewisse Koordination der Nutzung unterirdischer Ressourcen.
Mehr Konkurrenz, mehr Konflikte
Bis vor Kurzem hatten diese Gesetzgebungs- und Wissenslücken kaum Probleme zur Folge. Erst seit einigen Jahren schlagen Fachpersonen Alarm. Aufgrund der Urbanisierung und der Entwicklung neuer Technologien wird es zu einer verschärften Konkurrenz um die Nutzung des Untergrunds kommen, die zu Konflikten und zu einer nicht nachhaltigen Bewirtschaftung der Ressourcen führen könnte. Das ist eine Eigenheit des Untergrunds: Sobald eine Anlage gebaut ist, lässt sich die Raumnutzung kaum mehr ändern.
Der Untergrund in der Schweiz wird vor allem für vier Hauptzwecke genutzt: Rohstoffgewinnung – hauptsächlich Sand und Kies –, Bewirtschaftung des Grundwassers, Bau – zum Beispiel Verkehrswege – sowie Energieproduktion und -speicherung. «Grundsätzlich kann es bei der Nutzung des Untergrunds überall zu Konflikten kommen, in den kommenden Jahren dürfte sich die Situation aber vor allem in städtischen Agglomerationen zuspitzen», betont Stéphane Nahrath, Professor am Institut für öffentliche Verwaltung in Lausanne und Forscher des nationalen Forschungsprogramms «Nachhaltige Nutzung der Ressource Boden».
Geothermie versus Metro
Beispielsweise kann das Grundwasser verschmutzt werden. Oder bei bereits dicht verbautem Untergrund können nicht mehr alle Interessierten eine geothermische Sonde einsetzen. In Lausanne beispielsweise dürfen Eigentümer, deren Grundstück sich über der zukünftigen Metro M3 befindet, die Erdwärme nicht nutzen. Es stellt sich die Frage, ob sie dafür entschädigt werden müssen. «Gegenwärtig gibt es kein Gesetz, das diese Frage beantwortet», erklärt Stéphane Nahrath. Der Aufschwung der Geothermie – die im Übrigen durch die Energiestrategie 2050 gefördert wird – tritt also bereits in Konflikt mit Projekten für Verkehrstunnels.
Weiteres Konfliktpotenzial bergen Projekte, die eine unterirdische Lagerung von CO2, Erdgas oder radioaktiven Abfällen vorsehen oder Verlegungen von Hochspannungsleitungen im Boden. Der chronische Mangel an Bauflächen veranlasst Architektinnen und Architekten, vermehrt in die Tiefe zu bauen und sich dabei gleichzeitig die hervorragenden thermischen Möglichkeiten zunutze zu machen. Auch grosse Infrastrukturprojekte drängen ins Erdreich: «Cargo sous terrain» beispielsweise, ein Projekt zur vollständig automatischen Beförderung von Frachten über Tunnels, oder auch Eurotube, ein System für den Hochgeschwindigkeitstransport in einer Metallröhre, an dessen Entwicklung beide Eidgenössischen Technischen Hochschulen beteiligt sind.
«Viele dieser Projekte betreffen zwar die Zukunft», sagt Olivier Lateltin von Swisstopo. «Aber es ist jetzt an der Zeit, die erforderlichen Werkzeuge für die Bewirtschaftung des Untergrunds zu entwickeln.» Diese Meinung teilt Stéphane Nahrath: «Wir müssen die Raumplanung mit einer langfristig ausgerichteten Bewirtschaftung des Untergrunds koordinieren. Es gilt Pläne zu erstellen, Zonen festzulegen und Nutzungen vorzusehen, wie wir dies an der Oberfläche längst tun. Wenn wir die Rechtslage im Boden nicht rechtzeitig klären, wird sich das Bundesgericht in den nächsten Jahren ausgiebig darum kümmern müssen. Zweifellos wird die Zahl der Streitfälle rasant zunehmen. Wie sich gezeigt hat, ist es in diesem Bereich immer besser, vorauszudenken.» Wenn die Schweiz ihre Gesetzgebung nicht präzisiert, werden die Gerichte entscheiden, wie der Boden bewirtschaftet wird – ohne dass Fachleute mitreden können.
In Genf stellt Nathalie Andenmatten ein weiteres Problem fest: «Wenn wir die Nutzung des Untergrunds nicht besser planen, besteht die Gefahr, dass wir uns technologische Entwicklungen der Zukunft verbauen.» Im Bereich der Geothermie zum Beispiel wurden bereits viele flache Erdwärmesonden eingebaut, die bis in Tiefen von etwa 300 Metern reichen. Diese lassen sich gut bei Einfamilienhäusern auf dem Land einsetzen, sind aber weniger geeignet für Gebäude in städtischen Zentren, wo das Erdreich bereits verbaut ist. Bei diesen Bauten wären kollektive Erdwärmesysteme mit Grundwassernutzung oder mit mittleren Bohrtiefen vorteilhaft.
Und wieder der Kantönligeist
«Wenn die Behörden jetzt planlos zulassen, dass Privatpersonen ihre Sonden oder Sondenfelder einrichten, haben in den betroffenen Zonen keine kollektiven Erdwärmesysteme mehr Platz», meint die Geologin. Sie ist auch der Ansicht, dass die Umsetzung von Grossprojekten im Bereich der Geothermie wegen der unterschiedlichen oder sogar fehlenden spezifischen Gesetzgebung in den Kantonen sehr schwierig ist: «In jedem Kanton werden unterschiedliche Daten gefordert; etwas ist hier untersagt und dort erlaubt. Das wirkt abschreckend auf Initiativen für Grossprojekte. Damit sich die Erdwärmenutzung in mittleren Tiefen von 300 bis 3000 Metern in der Schweiz entwickeln kann, muss die Praxis zwischen den Kantonen harmonisiert werden.»
Die Geothermie ist nicht der einzige Bereich, in dem eine Harmonisierung not tut: Zahlreiche Projekte machen nicht vor Kantonsgrenzen halt. Vielleicht bringt die zweite Revision des Bundesgesetzes über die Raumplanung (RPG 2) eine Lösung, denn es steht eine Raumplanung in der dritten Dimension zur Diskussion. «Es wäre auf jeden Fall wünschenswert, dass das neue Gesetz eine detaillierte Raumplanung für den Untergrund bringt», betont Marianne Niggli, Präsidentin des Schweizer Geologenverbands. Sie organisiert im kommenden Herbst ein Symposium, an dem Fachpersonen aus den Bereichen Geologie, Städte- und Raumplanung sowie Unternehmen über den Inhalt des künftigen Gesetzes diskutieren.
In der Zwischenzeit dürften Projekte, die Swisstopo in Zusammenarbeit mit den kantonalen Behörden und den Bundesbehörden umsetzt, relevantes Wissen über den Schweizer Untergrund zutage bringen (siehe «Kartierung einer unsichtbaren Welt»). «Wir richten verschiedene Datenbanken zu den unterirdischen Strukturen ein, die von gesamtschweizerischem Interesse sind, wie Tiefbohrungen oder seismische Linien», erklärt Olivier Lateltin. «Wir möchten Standards für die Beschreibung geologischer Daten in der Schweiz festlegen und die Kantone dabei unterstützen, diese namentlich für Projektplaner und -träger bereitzustellen. Ich rechne damit, dass wir in zehn Jahren leistungsfähige geologischen Modelle des Untergrunds für die grossen Agglomerationen des Mittellands haben.»
Werden diese Daten die Ausgestaltung einer neuen Gesetzgebung erleichtern? Vielleicht, aber «zu viele regulatorische Vorgaben könnten kontraproduktiv sein», warnt Marianne Niggli. Die künftige Entwicklung ist nur schwer vorherzusehen. Sie rät deshalb, neue Normen schrittweise auf der Grundlage neuer Erkenntnisse einzuführen. Als Antwort auf wissenschaftliche Fortschritte fordern Fachpersonen nachdrücklich Expertengruppen, technische Standards und die Etablierung bewährter Praktiken – damit die Schweiz ihr Fundament ergiebig und umsichtig nutzen kann.
Geneviève Ruiz ist freie Journalistin und lebt in Nyon (VD).