Christine Scheidegger, Bern. Früher: Genderforscherin, heute: Bogentrainerin. | Bild: Valérie Chételat

DIE KÄMPFERIN
«Was mich fast getötet hat, war die mangelnde Anerkennung»

Ein Pfeil, ein Bogen. Der Pfeil soll von A nach B fliegen. Eigentlich ganz einfach. Und doch hochkomplex. Denn dafür müssen Kopf, Herz und Körper zusammenstimmen. Christine Scheidegger, vergleichende Politikwissenschaftlerin und Genderforscherin, bringt heute Menschen das Bogenschiessen bei. Die 39-Jährige ist ein besonnener Mensch, der sich jeden Satz genau überlegt. Auch das Gesagte soll ins Schwarze treffen. Vielleicht kommt diese Bedachtsamkeit davon, dass sie mit sozialwissenschaftlicher Akribie beobachtet hat, was im wissenschaftlichen Umfeld getan und eben auch unterlassen wurde, bevor sie nach zehn Forschungsjahren aus der Wissenschaft ausstieg.

Sie mag auch nicht von Ausstieg sprechen, denn sie habe nicht freiwillig aufgehört. Es kostete immer mehr Energie, in einem «toxischen und diskriminierenden Umfeld» unter prekären Anstellungsbedingungen zu leben, wie sie es nennt. «Das Schweizer System akademischer Karriere basiert auf der Mitfinanzierung durch Partner und geerbtes Geld. Was mich zudem fast getötet hat, war die mangelnde Anerkennung. Du arbeitest die ganze Zeit, auch am Wochenende, aber es heisst eigentlich immer, es sei zu wenig. Ich habe – wie die meisten – viel mehr investiert, als fairerweise erwartet werden darf.»

Scheideggers Doktorarbeit an der Universität St. Gallen über die strukturellen Dimensionen von Geschlechterverhältnissen kam international an. «Noch heute erreichen mich E-Mails von Forschenden, die begeistert sind von den Ergebnissen.» Eine Stelle oder Fördergelder gab es trotzdem nicht. Unter anderem scheiterten zwei ihrer Gesuche an den SNF. Als Scheidegger schliesslich den Hut nahm, tat sie dies nicht still und unbemerkt, wie es sonst bei Aussteigern üblich ist. Sie verabschiedete sich offiziell an einer internationalen Konferenz und informierte persönlich darüber, dass sie ihr Geld in Zukunft mit Bogenstunden verdienen wolle. Manche Leute waren perplex. Viele aber bewunderten sie für ihren Mut. «Bogenschiessen ist mystisch-romantisch aufgeladen», räumt sie ein.

Seit zwei Jahren unterrichtet Scheidegger die Trendsportart in der Tiefenau, am idyllischen Stadtrand von Bern. Sie bietet auch Bogenschiessen als Therapie für Menschen in psychiatrischer Behandlung an und als Achtsamkeitstraining für Menschen in Umbruchsituationen. Sie erklärt: «Auf Englisch heisst Forschen Research. Ich searche immer noch. Und ich biete meine Such-Skills Menschen an, die selber auf der Suche sind».

Donald Kossmann, USA. Früher: ETH-Professor, heute: Direktor bei Microsoft. | Bild: Valérie Chételat

DER KONTINENTENPENDLER
«Zurücklehnen und das Leben geniessen, das geht nicht»

Professor, ein Traumjob auf der obersten Sprosse der akademischen Karriere. Donald Kossmann war 13 Jahre lang Lehrstuhlinhaber im Departement Informatik der ETH. Und dann ging er. Wechselte 2017 in die Privatwirtschaft zu Microsoft, als Leiter des Forschungslabors in Redmond nahe Seattle mit hunderten Angestellten. Dort beschäftigt er sich damit, wie Daten gleichzeitig sicher und preiswert in der Cloud gehalten werden können.

«Die Wissenschaftscommunity war schon geschockt», räumt Kossmann ein. Er wisse selbst nicht so genau, warum er sich für einen kompletten Neustart entschieden habe. «Ich liebe die ETH. Ich hatte aber ein Plateau erreicht.» Und so zog es den 50-Jährigen aus der Komfortzone. Der Anfang in den USA sei schwierig und anstrengend gewesen. Er bezeichnet sich als «Europäer durch und durch». Er vermisse seine Familie und die Schweiz. Doch er schwärmt auch von den neuen Erfahrungen und vor allem den überragenden Kollegen. Der Erfolgsdruck sei allerdings an beiden Orten gross. «Zurücklehnen und das Leben geniessen, das geht nicht.» Doch Forschung ist Kossmanns Passion: «Es ist unglaublich befriedigend, eine Idee zu haben – vielleicht auch eine verrückte – und damit letztlich die Welt verbessern zu können.»

Sébastien Barrault, Norwegen. Früher: Biomechaniker, heute: Polarhundetrainer. | Bild: Øistein Sørensen

DER AUSWANDERER
«Ich bereue nichts»

«Im Leben geht es immer um Entscheidungen. Ich bereue nichts. Ich bin jetzt hier. Es ist wundervoll.» Hier, das ist der Ausflugsort Sandbakken Sportsstue, südöstlich der norwegischen Hauptstadt Oslo, mitten in den norwegischen Wäldern, wo Sébastien Barrault seit 2015 seine mittlerweile 16 Polarhunde trainiert und zusammen mit seiner Partnerin ein Restaurant führt. So abgelegen das klingt, für den an der EPFL ausgebildeten Biomechaniker ist das Gästehaus im Wald eher die Rückkehr in die Zivilisation. Zuvor arbeitete er als Leiter einer Forschungsstation in Ny-Ålesund, einer der nördlichsten Siedlungen der Welt auf Spitzbergen, wo die Auswirkungen der Klimaerwärmung auf die Arktis beobachtet werden.

Der Ausstieg aus der Forschung kam für den Walliser eher zufällig. Es bot sich die Möglichkeit, das Hostel Sandbakken zu übernehmen, und er griff zu. Der 42-Jährige vermisst die Forschung nicht. Er gehe den Dingen zwar gern auf den Grund, aber das könne er auch bei der Arbeit mit den Hunden. Weitere Parallelen sieht er nicht: «Es ist etwas ganz anderes: In der Forschung geht es um konkrete Fakten, bei der Arbeit mit Hunden dagegen um Erfahrungen und Gefühle.» Barrault schliesst aus, dereinst in die Forschung zurückzukehren. Zum einen, weil sich die Technologien so schnell weiterentwickeln, dass man rasch den Anschluss verliert, zum anderen, weil sein Leben jetzt ruhiger ist. «Ich mochte den Publikationsdruck in der Forschung nicht. Und die teilweise sehr harten und harschen Rückmeldungen aus den Peer-Reviews.» Natürlich habe er jetzt auch viel zu tun, aber es sei eine ganz andere Form von Stress.

Nadja Feddermann, Bern. Früher: Pflanzenbiologin, heute: Karriere-Coach. | Bild: Valérie Chételat

DIE NETZWERKERIN
«Ich dachte: Ich kann ja nur Wissenschaft, sonst nichts»

Ein Klee, in dessen Wurzeln dank Bakterien und einem Pilz Phosphat- und Zuckeraustausch stattfindet. Davon war Nadja Feddermann gefesselt: «Wie merken sie gegenseitig, wer wer ist? Wie funktioniert das Timing?» Zu diesen Fragen hat die Biologin an der Universität Basel ihre Dissertation geschrieben und an ähnlichen Fragen als Postdoc geforscht; in Schweden, in Freiburg, in Neuenburg.

In Schweden hätte sie bleiben können, auch ein Jobangebot aus den USA lag vor, aber sie entschied sich wegen ihrer Beziehung für die Schweiz. Und dort wurde es nach einigen Jahren schwierig. Die Fördermittel für die Forschungsprojekte liefen aus, und es gelang ihr nicht, an neue zu kommen. «Die Luft in der Akademie wird dünn weiter oben.» Dabei habe sie die Wissenschaft geliebt. «Das war mein Ding.» Welche Schritte für ihre Karriere wichtig gewesen wären, habe sie dagegen weitgehend ignoriert. «Das war mein Fehler.»

Genau dieser Fehler hat Nadja Feddermann zu dem gemacht, was sie heute beruflich ist: ein zufriedener Coach für Akademikerinnen und Akademiker, die einen Job suchen. Oder die gerade eine neue Stelle angetreten haben. Zuerst musste die 42-Jährige allerdings selbst durch Phasen der Orientierungslosigkeit. Es sei hart gewesen. Sie habe keine Ahnung gehabt, wie der Schweizer Jobmarkt funktioniert. «Ich dachte: Ich kann Wissenschaft und sonst nichts.» Gleichzeitig habe sie ihr eigenes Problem fasziniert: Wie plant man eine Karriere?

Schliesslich besuchte die Pflanzenbiologin einen privaten Coach und fand heraus, dass sie mehr konnte als Wissenschaft. Sie hatte zum Beispiel besonders gern Kollaborationen von Forschenden organisiert und Studierende betreut. Der nächste Schritt schien plötzlich logisch. Sie liess sich an einer französischsprachigen Coaching-Akademie ausbilden und coacht heute die Partnerinnen und Partner von Expats, unter anderem im Auftrag von grossen Pharmaunternehmen. Feddermann ist wieder gefesselt von ihrer Aufgabe. Statt auf die Kommunikation in einer Kleewurzel fokussiert sie nun auf die Kommunikation zwischen Menschen.

Rudolf Helbling, Misox (GR). Früher: Ökonomiedozent, heute: Alpbewirtschafter und Hirte. | Bild: Ti-Press/Francesca Agosta

DER ABENTEURER
«Ich beisse mich gerne durch»

Er musste zuerst auf 2000 Metern eine Stunde den Berg entlang wandern, an eine Stelle mit gutem Empfang, bevor er am Telefon über seine Liebe zur Freiheit, zur rauen Bergwelt und zu ökonomischen Fragestellungen reden konnte. Rudolf Helbling, Leiter der Pastorizia Alpina, bewirtschaftet im bündnerischen Misox seit 2003 Hochalpen und passt als Hirte auf Rindvieh, Schafe, Ziegen und Pferde auf.

Schon als junger Mann hatte der heute 58-Jährige den Traum vom Leben als Cowboy. Deswegen reiste er nach Neuseeland und in die USA und sammelte Erfahrungen als Farmarbeiter und Schafschärer. Dort realisierte er, dass er seinen Traum einer eigenen Farm nicht umsetzen konnte. Also sorgte er mit dem Studium der Ökonomie für ein festeres Standbein. Er doktorierte am Institut für Agrarökonomie und Agrarrecht St. Gallen und war schliesslich von 2003 bis 2015 Lehrbeauftragter für Volkswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen (HSG).

Helbling konnte seine beiden Leidenschaften immer wieder verbinden. Er trug seine Erkenntnisse aus der Praxis in Forschungsprojekte. Zum Beispiel konnte er aufzeigen, wie sich Behandlungskonzepte von Tierkrankheiten wie die Klauenkrankheit bei Schafen auf die Alpbewirtschaftung auswirkten. An der HSG dozierte er Agrarökonomie, unter anderem über die Frage, wieso bodengebundene Landwirtschaftsbetriebe weltweit meistens nur als Familienbetriebe funktionieren und nicht nach industriellen Prinzipien. Oder über Anreizproblematiken: Wie kann man einen Bauern dazu motivieren, das Land nicht zu übernutzen?

Der Wanderer zwischen zwei Welten sieht in den Engagements Verwandtes: «Bei der Arbeit auf dem Land und in Forschungsprojekten ist Ausdauer wichtig. Ich beisse mich gerne durch. Man muss die Unsicherheit aushalten, ob es gut herauskommt. Das kann einem niemand abnehmen.» Dass ein Alpbewirtschafter sich mit Akademikern auf Augenhöhe austauschen könne, sei selten: «Forschende meinen oft, Wissen sei das Wichtigste, und deswegen werden Leute, die jahrelange Erfahrung in der praktischen Arbeit haben, von diesen urbanen Akteuren überrollt; mit Regulierungen, Vorschriften, Konzepten. So geht es der ländlichen Minorität überall.»

Die Pastorizia Alpina jedenfalls läuft wirtschaftlich gut, wie Helbling sagt. Er ist sich aber bewusst, dass er dieses Leben nicht endlos wird führen können. «Irgendwann werde ich mich auf etwas konzentrieren müssen, das den Körper weniger fordert.» Dann sei für ihn die Arbeit in der Forschung wieder eine Option.