Wächterin des Cyberspace
Solange Ghernaouti ist eine international anerkannte Expertin für Cybersicherheit. Begegnung mit einer Kämpferin, die bescheiden geblieben ist.
Solange Ghernaouti, wie fühlt es sich an, eine Frau in einer Männerdomäne zu sein? «Ich bin eine Wissenschaftlerin, die leidenschaftlich lernt und lehrt. Das Geschlecht spielt dabei keine Rolle», versichert die 58-jährige Informatikerin. «Ich fordere das Recht ein, anders zu sein, und glaube an die Vielfalt der Menschen», sagt die Professorin für Informationssicherheit der Universität Lausanne (UNIL) schalkhaft. Barfuss, mit Mädchenfrisur und begleitet von Pudel Swak, der ihr sogar in ihre Vorlesungen folgt, sitzt sie im Büro, in dem sie seit 30 Jahren arbeitet.
«Wer sich exponiert, riskiert immer auch Kritik. Das ist mir egal. Wichtig ist es, respektiert zu werden.» Ursprünglich befasste sie sich mit der Architektur von Telekommunikationsnetzwerken, spezialisierte sich dann aber auf Sicherheit. Heute ist sie eine Autorität auf dem Gebiet der Cybersicherheit. Ihre Bücher werden ins Chinesische übersetzt, sie tritt in der ganzen Welt an Konferenzen auf und berät Regierungen und Uno-Organisationen. Gegenwärtig setzt sich die von ihrer Umgebung als «Kämpferin» wahrgenommene für eine «Genfer Erklärung über den Cyberspace» ein, in der Regeln für die digitale Welt, Rechte für Internetbenutzer und Grenzen für inakzeptable Praktiken festgelegt werden. «Wie bei Klima und Umwelt sollten wir darüber nachdenken, welche digitale Welt wir unseren Kindern überlassen wollen.»
Sicherheit braucht Rundumsicht
Die Forscherin fordert einen interdisziplinären Ansatz für die Cybersicherheit. Ihre Projekte befassen sich mit Technologien und Risikomanagement, aber auch mit philosophischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Aspekten. Sie warnt vor Übergriffen der IT-Riesen auf unser Privatleben und ruft zur Bekämpfung der Internetkriminalität auf. Das verschafft ihr nicht nur Freunde: 2015 wurde die Website ihrer Forschungsgruppe Swiss Cybersecurity Advisory and Research Group gehackt, offensichtlich vom Islamischen Staat. «Ich habe es als Erfahrung gesehen und habe viel über Cybersicherheit aus Sicht eines Opfers gelernt.»
Es braucht mehr, um Ghernaouti aus der Fassung zu bringen. Bereits in jungen Jahren musste sie sich einen Weg freikämpfen. Sie wurde in Algerien während des Krieges geboren, in eine französische Familie mit einem einjährigen Sohn. Ihr Vater arbeitete als Vermessungsingenieur in der Sahara. Die Familie kehrte bald nach Paris zurück. «Wir waren nicht reich. Der grösste Stolz meiner Mutter war es, uns jeden Tag zu Essen geben zu können.»
Das verträumte Mädchen ist fasziniert von Wörterbüchern, leidet aber an Legasthenie – zu einer Zeit, in der dieses Defizit noch kaum bekannt ist. «Mein Familienname ist so lang, dass ich alle Buchstaben durcheinander brachte», erinnert sie sich schmunzelnd. Sie ist ein Sorgenkind in der Schule; Mathematik ist ihre Rettung. Mit sechzehn schafft sie die Matura. «Dass ich mich immer anstrengen musste, hat mich stärker gemacht.»
Gegen Ende der Adoleszenz lässt sie sich von Leonardo da Vinci inspirieren. «Ich war fasziniert von seinem Erfindungsgeist und seinem Blick in die Zukunft, noch mehr aber von seiner Spiegelschrift.» Sie eiferte ihm nach. Erfolgreich: Mit zwei Füllern schreibt sie gleichzeitig denselben Satz – von rechts nach links mit der rechten, von links nach rechts mit der linken Hand. Eine würdige Rache des tintenklecksenden Mädchens gegen die Legasthenie. Ebenso die rund dreissig Bücher, die sie inzwischen veröffentlicht hat, darunter ihr erstes der Reihe «Que sais-je?» (enzyklopädische Reihe im Taschenbuchformat, A.d.R.) über das Internet, zusammen mit Arnaud Dufour.
Alles für die Unabhängigkeit
Mitte der 1970er-Jahre verlässt sie ihr Zuhause und die strenge Erziehung, um Informatik zu studieren. «Mir gefiel die innovative und abstrakte Seite dieser Disziplin. Wie bei einem neuen Spielzeug konnte ich es kaum erwarten, zu lernen, wie das funktioniert und was sich damit machen lässt.» Das Studium finanziert sie als Pflegerin, Mathematiklehrerin und Assistentin eines Neuropsychiaters, bevor sie eine Firma für Softwareentwicklung gründet. «Das war spannend, aber auch eine Frage des Überlebens. Ich wollte auf eigenen Beinen stehen, damit mir niemand etwas vorschreiben kann.» Mit dem Doktorat in der Tasche bewirbt sie sich an der UNIL und wird mit 28 Jahren als erste Frau Professorin an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften (HEC). Dort ist sie noch heute.
«Solange ist eine aussergewöhnliche Persönlichkeit, eine unkonventionelle Forscherin, die relevante Themen erkennt und ihr Team effizient einsetzt», sagt Igli Tashi, früherer Doktorand und heutiger Chef für Informationssicherheit bei der Waadtländer Kantonalbank. «Am meisten bewundere ich jedoch ihren vorurteilsfreien, offenen Geist.»
Einige Jahre nach Antritt der Professur kommt ihre Tochter zur Welt. Ihr «schönstes Abenteuer», aber auch ein «Marathon» für die alleinerziehende Mutter mit Karriere. «Ein unglaublicher Kraftakt, für den sich niemand interessiert», erinnert sie sich. «Ich habe jeden Tag mit dem Gedanken gespielt zu kündigen!» Eine Freundin an der UNIL, die Biologin Lilian Michalik, beschreibt ihre IT-Kollegin als «eine sehr grosszügige und mutige Frau, die für ihre Tochter und ihre Arbeit lebt und sich in diesem Macho-Milieu behauptet». Ghernaouti findet trotzdem Zeit, sich zu engagieren: Über zehn Jahre lang präsidiert sie die Sozialkommission und die Kommission für Chancengleichheit der UNIL. «Das war für mich selbstverständlich, eine Frage der Solidarität und der Vorbildfunktion.»
Heute widmet sie ihre Freizeit ihrer Tochter, dem Lesen und ihren Freunden. Sie liebt den Wald, beobachtet die Sterne und träumt davon, Hühner zu halten. Täglich macht sie lange Spaziergänge mit ihrem Hund: «Da kann ich meinen Kopf durchlüften, aus der Routine ausbrechen und mich organisieren. Eigentlich ist es mein Hund, der mich spazieren führt, nicht umgekehrt!», sagt die Forscherin lachend. Doch ihre grösste Leidenschaft ist es nach wie vor, zu verstehen, zu reflektieren und zu teilen. «Ich will offen bleiben für Neues. Das ist eine Lebenshaltung. Wer nur die Anstrengungen sieht, kann dem nichts abgewinnen, aber mich begeistert das.»
Die 1958 geborene Solange Ghernaouti promovierte 1986 an der Universität Paris VI in Informatik und Telekommunikation. 1987 wurde sie als Professorin an die Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Universität Lausanne berufen. Sie ist Mitglied des Genfer Zentrums für Sicherheitspolitik und der Schweizerischen Akademie der Technischen Wissenschaften sowie Buchprüferin am Institut des hautes études de défense nationale in Paris. 2014 wurde sie zum «Ritter der Ehrenlegion» ernannt. Sie ist französisch-schweizerische Doppelbürgerin und hat eine erwachsene Tochter.
Die Journalistin Martine Brocard schreibt für ATS, Les Alpes und LargeNetwork.