Gebärden, die gesprochene Worte ersetzen
Viele der rund 600 000 hörbehinderten Menschen in der Schweiz kommunizieren mit einer Gebärdensprache. Das interessiert auch die Forschung.
Gebärdensprachen sind natürliche Sprachen. Sie werden in einer Sprachgemeinschaft genauso wie Lautsprachen entwickelt und benutzt. In der Schweiz gibt es drei davon: Deutschschweizer, französische und italienische Gebärdensprachen.
Die Erforschung der Gebärdensprache mit modernen linguistischen Methoden begann in den 1960er Jahren mit Studien in den USA und den Niederlanden. In der Schweiz gründete Penny Boyes Braem 1982 das Forschungszentrum für Gebärdensprache (FZG) in Basel als private, nicht profitorientierte Organisation. «Damals war keine andere Institution in der Schweiz bereit, Forschung über diese teils verpönte Sprache zu fördern», erklärt die Forscherin. «Für Linguisten sind die Beschreibungen von diesen Sprachen, die visuell produziert und wahrgenommen werden, aber sehr interessant, weil sie oft ein neues Licht auf die traditionellen Sprachtheorien werfen.» Zum Beispiel ist in der Gebärdensprache visuelle Ikonizität auf allen Ebenen vorhanden, also ein sichtbares Abbildungsverhältnis sprachlicher Ausdrücke. Dies werfe «starke Schatten» auf das linguistische Prinzip, dass die Beziehung zwischen den sprachlichen Zeichen respektive Wörtern und ihren Bedeutungen in allen menschlichen Sprachen willkürlich seien. So unterscheiden sich zum Beispiel die Wörter für das Konzept «Baum» in nicht verwandten Lautsprachen sehr. Aber in vielen Gebärdensprachen der Welt zeigen die Gebärden für Baum einen bildhaften Aspekt der Form eines Baumes.
Vom Lippenlesen zur Gebärde
Heute wird die Gebärdensprache in der Schweiz an verschiedenen Institutionen untersucht, zum Beispiel an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich (HfH), an der Universität Zürich (UZH) und an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Winterthur (ZHAW).
In den Projekten braucht es Forschende, die die Gebärdensprache sehr gut beherrschen. Eine von ihnen ist Katja Tissi von der HfH. Sie ist seit Geburt gehörlos und hat ihre Gebärdensprache von ihrer älteren, auch gehörlosen Schwester gelernt. «Als Kind hatte ich oft ein schlechtes Gefühl, wenn ich die Gebärdensprache benutzte», erinnert sie sich. Bis 1980 konzentrierten sich Fachleute in der Schweiz darauf, Betroffene ins Hör- und Sprachtraining zu schicken. Kommuniziert wurde vor allem übers Lippenlesen. Durch einen Aufenthalt in den USA entdeckte Katja Tissi, dass dort die Gebärdensprache wissenschaftlich erforscht wird: «Zu sehen, dass die Gebärdensprache anerkannt wird, hat mir ganz neue Welten eröffnet und Selbstbewusstsein gegeben.»
Technisch profitiert die Gebärdensprachforschung von den Entwicklungen der Computer und im Bereich Multimedia; zentral ist dabei die Bilderkennung. «Genauso wie Hörende nutzen auch immer mehr Gehörlose das Internet und die Sozialmedien», erklärt Penny Boyes Braem. Um per Internet zu kommunizieren, produzieren Gehörlose oft Videoclips mit Gebärdensprache. Sie können so leicht identifiziert werden – im Gegensatz zu Lautsprache-Nutzern, die in schriftlichen Mitteilungen anonym bleiben können.
Deswegen sind Forscher daran, Techniken zu entwickeln, um Gebärden zuerst auf Video automatisch zu erkennen und dann durch einen völlig anonymen Avatar gebärden zu lassen. Ein erster Schritt in diese Richtung ist das Projekt Smile, das vom Idiap-Forschungsinstitut in Martigny in Zusammenarbeit mit der HfH und der University of Surrey, Grossbritannien, durchgeführt wird. In diesem Projekt wird ein Gebärdenspracherkennungssystem entwickelt, das Lernenden ein Feedback zu ihrer Produktion der Deutschschweizer Gebärdensprache gibt.
Übersetzer-Avatar leiht seine Ohren
Maschinelle automatische Übersetzung spielt auch in der Doktorarbeit von Sarah Ebling von der Universität Zürich eine zentrale Rolle: Zugansagen an Bahnhöfen sind für Menschen mit einer Hörbehinderung nicht verständlich. Im Projekt wurde ein System entwickelt, das die Zugansagen automatisch von einem Avatar in deutschschweizerischer Gebärdensprache (DSGS) auf einem Smartphone anzeigt.
Weitere Forschungsschwerpunkte sind die Signale der Hände und des Gesichts sowie die kognitiven Prozesse bei der Benützung von Gebärdensprachen. «Verschiedene Studien haben gezeigt, dass die Koordination einer manuellen Gebärde mit einer nicht manuellen Komponente für erwachsene hörende Lernende eine grosse Herausforderung ist. Noch wissen wir aber viel zu wenig darüber, wie dieser modalitätsspezifische Spracherwerb abläuft», erklärt Tobias Haug, Studiengangleiter und Forscher an der HfH. Um dieser Frage nachzugehen, plant die HfH ein Projekt für einen sogenannten Lernerkorpus der DSGS. «Ziel eines Lernerkorpus ist es, Daten von Lernenden über eine gewisse Spanne ihres DSGS-Erwerbs zu erheben, um unter anderem herausfinden zu können, was typische Schwierigkeiten beim Erlernen einer Gebärdensprache sind.»
Astrid Tomczak-Plewka ist freie Journalistin in Bern.