STANDPUNKT
Edwin Constable: «Die Wissenschaft wird kritisch beobachtet»
Der Vorsitzende der Schweizer Expertengruppe Wissenschaftliche Integrität erklärt, weshalb die Schweizer Forschung dieses Jahr einen neuen Verhaltenskodex bekommt.
Edwin Constable leitet seit zwei Jahren eine Gruppe von Expertinnen und Experten an den Akademien der Wissenschaften Schweiz mit dem Auftrag, den Verhaltenskodex für wissenschaftliche Integrität zu überarbeiten. Er soll in Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Nationalfonds, Swissuniversities und Innosuisse im Sommer 2021 veröffentlicht werden.
Edwin Constable, was weckt das Interesse eines Chemieprofessors an wissenschaftlicher Integrität?
Eine berechtigte Frage. Es war ein kontinuierlicher, osmotischer Prozess. In meiner Zeit als Vizerektor an der Universität Basel verantwortete ich die Doktorandenausbildung. Integrität in der Forschung war ein zentrales Thema. Es kamen auch Fälle von wissenschaftlichem Fehlverhalten auf meinen Tisch. Es ist eine interessante und lohnende Tätigkeit.
Lohnend?
In schwierige Fälle involviert zu werden, ist natürlich nicht dankbar. Aber wenn wir einen guten Kodex schaffen, verhindern wir künftig solche Situationen.
Was hat sich geändert, dass der alte Kodex von 2008 umgestaltet werden muss?
Alles! Die Wissenschaft wird von der Öffentlichkeit so kritisch beobachtet wie nie zuvor. Sie verlangt Kosteneffektivität. Ausserdem hat sich die Kommunikation von Forschungsergebnissen verändert. Damals steckten die sozialen Medien noch in den Kinderschuhen. Seither werden immer häufiger Fake-Fakten verbreitet und Forschungsergebnisse uninformiert hinterfragt. Es ist zentral, dass publizierte wissenschaftliche Ergebnisse robust sind und sich verteidigen lassen. Das Management von akademischen Institutionen erfährt oft über Plattformen wie PubPeer von Vorwürfen über Fehlverhalten. Mit dem Fortschritt bei der KI und den riesigen Datenvolumen wird es immer schwieriger, die primären Daten einer Publikation zu prüfen.
Welche Auswirkung wird der Kodex auf die Praxis haben?
Ich hoffe sehr, dass er mit offenen Armen aufgenommen wird. Nicht als Regelwerk, das die individuelle Freiheit beschneidet, sondern als Referenz, die zu Rate gezogen wird, wenn Zweifel über die beste Praxis bestehen. Institutionen könnten ihn als Checkliste für ihre eigenen Bestimmungen verwenden.
Weshalb braucht es neben dem Europäischen Verhaltenskodex eine Schweizer Version?
Er ist hervorragend, aber der Schweizer Kodex ist detaillierter und berücksichtigt nationale Aspekte. Hier sind die Institutionen der höheren Bildung unabhängiger. Untersuchungen und Sanktionen bei Fehlverhalten liegen in ihrer Kompetenz. Was sie tun können, ist durch Bestimmungen auf Ebene des Bundes, der Kantone und der Universitäten festgehalten. So könnte der Schutz des Individuums die Transparenz in einer Weise beschränken, die nicht den Erwartungen der Öffentlichkeit entspricht.Ich habe in den vergangenen zwei Jahren viel über Schweizer Recht gelernt.